Wohin mit den Geflüchteten? Europa beisst sich an einer Lösung des Migrationsproblems seit Jahren die Zähne aus. Deutschland sagte nach der Vernichtung des Lagers in Moria die Aufnahme von 1.553 Menschen zu - weit mehr als jeder Partner in der Europäischen Union. Griechenland hat derweil eine neue Zeltstadt errichtet.
Nach der Vernichtung des Flüchtlingslagers Moria auf der griechischen Insel Lesbos führt Deutschland die so genannte "Koalition der Willigen" an. Sie umfasst jene Staaten Europas, die bereit sind, Teile der nicht nur heimat- sondern zudem obdachlos gewordenen Flüchtlinge aufzunehmen.
Angesichts der Zahl der Mitglieder in der Europäischen Union - sie umfasst nach dem Austritt Grossbritanniens noch immer 27 Staaten - nimmt sich die Zahl jener, die sich bisher bereit erklärten, die Flüchtlinge aus ihrer akuten Notlage zu befreien, beschämend klein aus.
Warum einige EU-Staaten sich der Aufnahme der Moria-Flüchtlinge verweigern
Deutschlands Nachbarn Österreich und Dänemark gehören zu der weitaus grösseren Fraktion der Unwilligen, zumindest was den Aspekt angeht, die Menschen ins Land zu holen.
Auch Spanien, Ungarn, Polen, Schweden oder Griechenland selbst verweigern sich der Aufnahme der Flüchtlinge. Sie führen verschiedene Gründe an.
- In Österreich stehen am 11. Oktober 2020 Landtags- und Gemeinderatswahlen in Wien auf dem Programm. Für Bundeskanzler
Sebastian Kurz von der ÖVP stört die Diskussion um die Aufnahme der Flüchtlinge, die er koalitionsintern mit den Grünen führt, wegen des Wahlkampfs also gleich doppelt. - Kurz betonte ausdrücklich, "dem deutschen Weg nicht folgen" zu wollen. Österreich wolle, wie auch Dänemark und Schweden, lieber Hilfe auf Lesbos selbst leisten. Die Rede ist von 400 Hilfsunterkünften, die Österreich schaffen wolle, zudem von der Entsendung eines Arztes und zehn Sanitätern des Bundesheeres.
- Österreichs Aussenminister
Alexander Schallenberg gab zudem zu bedenken, wenn die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln durch die Verteilung der Migranten auf europäische Länder geräumt würden, wären sie auch bald wieder mit neuen Flüchtlingen voll. - CDU-Innenpolitiker Mathias Middelberg hatte es ähnlich formuliert. Es dürfe nicht der Eindruck entstehen: "Wer es auf die Inseln schafft, dem steht der Weg in das Wunschzielland in Europa offen."
- So argumentiert auch die griechische Regierung. Georgios Koumoutsakos, stellvertretender Migrationsminister, sagte: "Wer denkt, er könne zum Festland und dann nach Deutschland reisen, der soll es vergessen."
- Die griechischen Behörden unterstellen den Migranten, die verheerenden Feuer im Lager in Moria mit der Absicht gelegt zu haben, genau diesen Weg - auf das griechische Festland und dann nach Deutschland - erzwingen zu wollen. Deshalb besteht die Befürchtung eines Nachahmungseffekts. "Mach es wie in Moria" dürfe nicht zum Slogan werden, warnte der Asylbeauftragte Manos Logothetis.
- Spaniens Aussenministerin Arancha González Laya gab für ihre Regierung zu bedenken: "Wir haben schon eine sehr grosse Zahl Asylsuchender willkommen geheissen. Und wir sind ein Land der Einwanderer."
- Spanien hat im Jahr 2019 rund 118.000 Flüchtlinge aufgenommen, heisst es in einer Auswertung der UNHCR und Eurostat. Spanien fordert, ähnlich wie die Mittelmeer-Anrainer Italien und Griechenland, die Solidarität der anderen EU-Staaten ein.
Deutschland hilft - wer noch?
Demgegenüber stehen die aufnahmebereiten EU-Staaten, an der Spitze die deutsche Bundesregierung. Was sie zu tun bereit sind, um die Flüchtlingskrise zu bekämpfen und zumindest kurzfristig in den Griff zu bekommen, beleuchten wir hier.
Deutschland:
- Nimmt von fünf griechischen Inseln 1.553 Flüchtlinge auf.
- Es geht dabei um 408 Familien mit Kindern, die in Griechenland bereits als schutzbedürftig anerkannt wurden.
- Zuvor hatte die Bundesregierung erklärt, von insgesamt 400 unbegleiteten Minderjährigen, die aus Griechenland in andere europäische Länder gebracht werden sollen, 100 bis 150 Jugendliche aufzunehmen.
- Der CDU-Fraktionsvize im Bundestag, Thorsten Frei, kritisierte in der "Welt": "Wenn in Europa der Eindruck entstünde, dass Deutschland dazu bereit ist, im Krisenfall allein zu handeln, dann können wir für die Zukunft eine gemeinsame europäische Lösung bei der Migrationsfrage vergessen."
- Im Rahmen des deutschen Resettlement-Programms wird seit 2012 jährlich ein Kontingent besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge dauerhaft in Deutschland aufgenommen.
Frankreich:
- Hatte sich auf Bitten Griechenlands ebenfalls bereits erklärt, 100 bis 150 unbegleitete Minderjährige aus Moria aufzunehmen.
- Frankreichs Europa-Staatssekretär Clément Beaune erklärte, seine Regierung sei darüber hinaus bereit, "Hunderte Flüchtlinge" aufzunehmen.
Italien:
- In Abstimmung mit dem Innenministerium erklärte sich die Kirche in Italien zur Aufnahme von 300 Flüchtlingen aus Lesbos bereit. Eine entsprechende Vereinbarung würden die Gemeinschaft Sant'Egidio und das Ministerium am Dienstag in Rom unterzeichnen.
- Die Menschen erhalten bei diesem Verfahren eine offizielle Einreiseerlaubnis. Ihr Flug werde über Kirchenmittel und Spenden finanziert.
Niederlande:
- Die rechtsliberale Partei von Premierminister Mark Rutte lehnt die Aufnahme von Migranten aus Griechenland strikt ab.
- Der Druck dreier Partner in der niederländischen Mitte-Rechts-Koalition führte zu der Vereinbarung, 100 Geflüchtete (darunter 50 Kinder) aus dem abgebrannten Lager auf Lesbos aufzunehmen.
- Die Niederlande verlangen für ihre Hilfe eine Gegenleistung: Aus dem Programm des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR sollen statt der vereinbarten 500 Menschen pro Jahr nun nur 400 zugelassen werden.
Finnland:
- Finnlands Regierung teilte mit, sie wolle "elf unbegleitete minderjährige Asylbewerber" aus Moria holen.
- Diese elf unbegleiteten minderjährigen Asylbewerber seien Teil eines Kabinettsbeschlusses aus dem Frühjahr. Dieser sieht vor, 175 besonders gefährdete Asylbewerber aus dem Mittelmeerraum aufzunehmen. "Bisher wurden 72 unbegleitete minderjährige Asylbewerber von Griechenland nach Finnland überstellt", sagte Innenministerin Maria Ohisalo. "Unsere Massnahmen haben Griechenland und schutzbedürftigen Asylbewerbern bereits konkret geholfen. Durch den Empfang dieser elf Minderjährigen werden wir weiterhin die Entscheidung der Regierung unterstützen und umsetzen", fügte Ohisalo an.
Wie ist die aktuelle Lage in Griechenland?
Auf Lesbos selbst ist derweil die Umsiedlung der rund 12.000 obdachlosen Menschen weitgehend abgeschlossen. Die neue Zeltstadt entstand in Kara Tepe an der Ostküste. Sie soll bis zu 10.000 Menschen Platz bieten. Diese seien jetzt dort angekommen.
"Wir haben die erste Phase der Bewältigung der Moria-Krise abgeschlossen", sagte der stellvertretende Migrationsministers Notis Mitarakis dem griechischen Fernsehsender Skai. Die neue Struktur funktioniere.
Aufenthaltsort von etwa 2.000 Flüchtlingen ist unbekannt
Wo sich die restlichen 2.000 Menschen aufhalten, sagte er jedoch nicht. Einige Migranten wollen das neue Lager nicht beziehen - aus Angst, es nicht mehr verlassen zu dürfen. Sie wurden von der Polizei bislang auch nicht aufgefunden.
Im Zeltlager seien die Menschen alle registriert worden, damit ihre Asylverfahren weiterlaufen könnten, berichtete die griechische Nachrichten-Agentur ANA-MPA am Samstag.
Ausserdem seien sie bei ihrem Einzug in das Camp auf das Coronavirus getestet worden, bisher seien die Tests bei 213 Menschen positiv ausgefallen. Die Infizierten würden in einem abgetrennten Teil des Lagers isoliert.
Nach Angaben der EU-Kommission warten allein auf Lesbos 11.000 Menschen auf einen Asylentscheid. 1.400 wurde Schutz zugesagt, bei 900 wurde der Antrag in zweiter Instanz abgelehnt.
Verwendete Quellen:
- stern.de: Europäische Lösung? So stehen andere EU-Länder zur Aufnahme von Migranten aus Moria
- cicero.de: Eine europäische Lösung?
- Bundesministerium des Inneren: Humanitäre Aufnahmeprogramme
- domradio.de: Über humanitäre Korridore
- welt.de: Grüne erwarten "Koalition der Willigen" von Kanzlerin Merkel
- deutschewelle.com/de: EU-Lager statt Flüchtlingsaufnahme
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