Noch nie wurden in der Geschichte der Schweizer Demokratie für eine Abstimmung so strenge Überwachungsmassnahmen ergriffen. Am 18. Juni 2017 entscheiden die Stimmberechtigten von Moutier, ob die kleine Stadt beim Kanton Bern bleiben oder zum Kanton Jura wechseln soll. Bei der Abstimmung geht es um viel: Sie soll der Jurafrage, dem grössten politisch-territorialen Konflikt der Schweiz in der Nachkriegszeit, definitiv ein Ende setzen.
Der Jurakonflikt, das ist eine Geschichte voller Spannungen über Aufteilung und Zugehörigkeit einer hügeligen Region, die sich von der französischen Grenze bei Belfort bis zur Stadt Biel, dem Scharnier zur Deutschschweiz, erstreckt.
Die Spannungen führten dazu, dass sich der katholische "Norden" vom protestantischen "Süden" löste, um den neuen Kanton Jura zu gründen. Der Konflikt prägte die ganze Schweiz und hinterliess teilweise bis in einzelne Familien hinein seine Spuren.
Der Fall Moutier ist ein Sinnbild für die teilweise bis heute andauernden Spannungen rund um die Jurafrage. Die grösste Gemeinde des Berner Jura hatte sich bei drei Plebisziten der 1970er-Jahre mit nur einigen Dutzend Stimmen für den Verbleib beim Kanton Bern ausgesprochen, und auch bei einer Konsultativabstimmung 1998 hatte Moutier den Wechsel zum Kanton Jura erneut verworfen.
Nun werden die Stimmberechtigten des Städtchens sich am 18. Juni 2017 an der Urne ein weiteres Mal zu der Kantonszugehörigkeit äussern können.
Die Abstimmung in Moutier ist die zweite Etappe eines Prozesses, der darauf abzielt, den Jurakonflikt "endgültig" beizulegen. In einem ersten Schritt hatten es die Stimmberechtigten im Berner Jura abgelehnt, mit dem heutigen Kanton Jura zusammen einen neuen Kanton zu bilden, lediglich Moutier hatte sich dafür ausgesprochen.
Den Gemeinden im Berner Jura stand danach jedoch noch die Möglichkeit offen, als einzelne Gemeinden eine Abstimmung über einen Wechsel zum Kanton Jura anzuberaumen. Nach der Abstimmung vom Juni in Moutier wollen dies noch vier weitere kleine Gemeinden tun.
Emotionale Abstimmung, aussergewöhnliche Massnahmen
In der Schweiz liegt die Kompetenz für die Organisation von Gemeindeabstimmungen im Prinzip bei den Gemeinden. Wegen der grossen Emotionen, die mit der Abstimmung in Moutier im Juni verbunden sind, baten die Stadtbehörden jedoch die Berner Kantonsregierung, Massnahmen zu ergreifen, um einen reibungslosen Ablauf der brisanten Abstimmung sicherzustellen. Dies, weil seit 1982 die Bevölkerung mehrheitlich Autonomisten wählt, die sich für einen Anschluss an den Kanton Jura stark machen.
Die Kantonsregierung, das Bundesamt für Justiz (BJ) und die Behörden Moutiers einigten sich danach auf ein beispielsloses Dispositiv. "Es ist das erste Mal in der Schweiz, dass für eine Abstimmung derart viele Massnahmen ergriffen wurden", unterstreicht Jean-Christophe Geiser, der beim BJ für das Jura-Dossier zuständig ist.
Der Bund wird sieben Beobachter nach Moutier entsenden. Diese Massnahme war in der Geschichte der Schweizer Demokratie bisher erst zwei Mal ergriffen worden, ebenfalls im Rahmen der Jurafrage: Zum ersten Mal bei den Abstimmungen der 1970er-Jahre, zum zweiten Mal bei der Abstimmung vom 24. November 2013. Die Beobachter, Juristen des BJ, werden in den Wahllokalen und bei der Auszählung vor Ort sein. "Im Fall von Problemen werden sie nicht direkt reagieren können, sondern müssen dies an die zuständige Behörde delegieren", präzisiert Geiser.
Ihr Mandat geht aber weiter als bei früheren Einsätzen. Zu ihrer Aufgabe gehört es auch, die Verantwortlichen von Alters- und Pflegeheimen dafür zu sensibilisieren, wie die Abstimmungsunterlagen von Pensionären zu behandeln sind, um Missbrauch vorzubeugen. Und die Angestellten der Post in Moutier werden darüber instruiert, wie Abstimmungsunterlagen, die bei Postfächern zurückgelassen werden, korrekt zu entsorgen sind, damit sie nicht von anderen Personen verwendet werden können.
Versiegelte Abstimmungscouverts
Um einen tadellosen Umgang mit dem Stimmmaterial zu gewährleisten, werden die Antwortcouverts der brieflichen Stimmabgabe direkt ans BJ adressiert und in Bern in versiegelten Urnen aufbewahrt, bevor sie am Wahlsonntag für die Auszählung nach Moutier gebracht werden. Die Auszählung der brieflichen Stimmen darf erst nach der Schliessung der Stimmlokale beginnen.
Die Gemeindebehörden hatten auf die briefliche Stimmabgabe ganz verzichten wollen, was die Berner Regierung unter Verweis auf das Gesetz jedoch ablehnte. Eine solche Einschränkung könne nur in Betracht gezogen werden, wenn es Probleme beim Postdienst gebe, ein Manipulationsversuch aufgedeckt werde oder im Fall von Störungen der öffentlichen Ordnung.
Die bernische Staatskanzlei wird zudem monatlich die Stimmregister von Moutier überprüfen, um allfälligen Wahltourismus vermeiden zu können. "Bisher haben wir nichts Ungewöhnliches festgestellt. Im letzten Jahr haben wir sogar 30 Einwohner verloren", erklärt Moutiers Stadtpräsident Marcel Winistoerfer.
"Wir sind nicht in Zimbabwe"
Der Stadtpräsident räumt ein, dass die ergriffenen Massnahmen von aussen betrachtet etwas unverhältnismässig erscheinen mögen. "Wir sind nicht in Zimbabwe, wir sind und bleiben in Moutier", hatte er in einem Interview mit dem Westschweizer Radio und Fernsehen (RTS) erklärt. Das Dispositiv stelle die Zuverlässigkeit seiner Behörden nicht in Frage, sondern erlaube es, Anfechtungen der Abstimmung vorzubeugen.
Im Lager der Gegner eines Kantonswechsels werden die Massnahmen begrüsst, weil damit Vertrauen geschaffen werde. "Wir wollen eine beispielhafte, transparente Abstimmung, die nicht angefochten werden kann", erklärt Patrick Roethlisberger, Sprecher von Moutier-Prévote, dem Komitee, das sich für einen Verbleib des Städtchens im Kanton Bern einsetzt.
Gerechtfertigte oder unverhältnismässige Massnahmen?
Der beim BJ für das Jura-Dossier zuständige Jean-Christophe Geiser sagt, der wahrscheinlich sehr knappe Ausgang der Abstimmung rechtfertige ein solch beispielsloses Dispositiv. "2013 hatte man erwartet, dass sich der Berner Jura insgesamt gegen eine gemeinsame Zukunft mit dem Kanton Jura aussprechen dürfte. Heute ist niemand in der Lage, das Resultat von Moutier voraussagen zu können, vielleicht werden nur ein paar wenige Stimmen den Ausschlag geben."
Geiser unterstreicht, es gehe nicht um mangelndes Vertrauen in die Stadtbehörden, sondern um eine Anfrage der Behörden Moutiers, die damit vermeiden wollten, dass das Abstimmungsresultat angefochten werde. "Man darf den emotionalen Aspekt nicht unterschätzen. Diese Abstimmung ist der Höhepunkt eines Prozesses, der zum Ziel hat, einem der grössten politischen Konflikte der Schweiz in der Nachkriegszeit ein Ende zu setzen", erklärt er.
Und er ruft in Erinnerung, dass die Resultate der Abstimmungen der 1970er-Jahre angefochten worden waren (siehe Kasten). Die Tatsache, dass solche Massnahmen ergriffen werden können, ist für Geiser ein "positives Zeichen für die Glaubwürdigkeit und Vitalität der Schweizer Demokratie".
Man hätte weiter gehen können
Andreas Gross, ehemaliger sozialdemokratischer Nationalrat und Spezialist für Fragen rund um die direkte Demokratie, hat selber an mehr als 90 Beobachtermissionen bei Wahlen und Abstimmungen in Europa teilgenommen. Seiner Ansicht nach sind die für die Abstimmung in Moutier getroffenen Massnahmen gerechtfertigt. "Man hat bei diesem Dossier die Lehren aus der Geschichte gezogen, die zeigt, dass es auch in der Schweiz Raum für gewisse Manipulationen gibt, wie zum Beispiel die Affäre um die schwarzen Kassen zeigte (siehe Kasten)."
Für Gross, einen Beobachter der Jurafrage, der heute in Saint-Ursanne (Kanton Jura) lebt, hätte die Art und Weise, wie die Angestellten der Post und der Alters- und Pflegeheime sensibilisiert wurden, aber präziser erfolgen können. Zudem hätte man neben Beobachtern des Bundes Experten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) einladen können. "Diese hätten den ganzen Prozess beobachtet und wären nicht nur am Abstimmungswochenende präsent gewesen", erklärt er.
Für Andreas Gross ist vorbeugen besser als heilen. So würde es dieser Fachmann für direkte Demokratie begrüssen, wenn die Kantone alle 10 Jahre Überprüfungen anordnen würden, um sicherzustellen, dass die Abstimmungen auf Gemeindeebene ordnungsgemäss verlaufen. "Das Vertrauen der Bürger und Bürgerinnen kann rasch verloren gehen, doch es ist schwierig, es wieder zu erlangen", warnt er.
In der Schweiz werden für Abstimmungen normalerweise auf lokaler keine Beobachter entsandt. Experten der OSZE beobachten aber jedoch von Zeit zu Zeit Wahlen auf Bundesebene. "Weder das Vertrauen noch die Demokratie sind absolut, es gibt nur Beweise für Vertrauen und Demokratie. Und es ist die Aufgabe dieser Beobachter, diese Beweise zu erbringen", erklärt Jean-Christophe Geiser.
© swissinfo.ch
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