Kaum einer kann sich vorstellen, was es heisst, im Gazastreifen zu leben. Für viele bedeutet es ein Dasein ohne Hoffnung. Auch wenn Frieden herrscht, blockiert Israel Warenlieferungen nach Gaza - und die Menschen leiden.

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Solange die Feuerpause andauert, machen sich Menschen im Gazastreifen auf die Suche. Nach unversehrten Gebrauchsgegenständen, aber auch nach Verwandten. Oder das, was von ihnen übrig geblieben ist.

"Die Menschen sind dabei, die Trümmer zu beseitigen, so gut sie das können ohne Handschuhe oder Werkzeug", sagt Martin Lejeune, der als freier Journalist seit dem 22. Juli in Gaza-Stadt ausharrt. Wiederaufbauen kommt nicht in Frage.

"Wer weiss, wie lange die Waffenruhe anhält, wann nicht doch wieder alles zerstört wird", sagt Lejeune. "Seit der Blockade durch Israel fehlt es seit Jahren an Baumaterialien wie Zement, Beton, Ziegel und so weiter." Leben im Gazastreifen heisst im Moment, sich mit dem Nötigsten versorgen. Läden, die noch nicht zerstört sind, haben wieder geöffnet. Es gibt Lebensmittel und Hygieneartikel zu kaufen. "Und was erhältlich ist, wird auch alles eingekauft", sagt Lejeune. Ersatzbauteile für kaputte Autos oder Elektrogeräte wie Kameras seien dagegen kaum verfügbar.

"Immerhin haben wir seit einer Woche wieder Notstrom und die Internet- und Telefonverbindungen funktionieren wieder", erzählt Lejeune, "es hat sich spätestens seit gestern alles einigermassen normalisiert". Wobei von Normalität eigentlich keine Rede sein kann. Denn Lejeune, der auf seinem Blog über die Situation vor Ort berichtet, schläft in einem Privathaus auf dem Boden, "wie viele andere auch". Ein Hotel in Gaza sei derzeit auch ohne Seeblick teuer und sicher sei es im Gazastreifen zur Zeit ohnehin nicht, egal wo.

Engpässe bei Wasser und Strom

Ein grosses Problem ist die Wasserknappheit im Gazastreifen. In Friedenszeiten haben manche Gazaner nur etwa 20 Liter Trinkwasser pro Kopf und Tag, während der Durchschnitt mit ungefähr 80 Liter zurecht kommen muss – immer noch gut 50 Liter weniger als der Durchschnittsdeutsche. "Für den Gazastreifen ist der Küstenaquifer die einzige Frischwasserquelle. Doch das Grundwasser versalzt immer mehr und wird bald nicht mehr nutzbar sein", erläutert Nahost-Experte Jörg Knocha von der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS).

Aussenstehenden bleiben selbst bei Engpässen die dramatischen Zustände unter friedlicheren Umständen eher verborgen. "Auf den ersten Blick wirkt das Leben in Gaza ganz normal", sagt Knocha. "Von den stundenlangen Stromausfällen sowie der Wasserarmut bekommt man als Ausländer kaum etwas mit." Der Grund: Wenn es Probleme mit der allgemeinen Stromversorgung gibt, springen Generatoren ein. Aber nur bei denen, die sich dafür den Diesel leisten können.

Angriffe machen humanitäre Situation noch schlimmer

Durch die zahlreichen Angriffe der israelischen Luftwaffe ist die angespannte Situation noch schlimmer geworden. "Es gibt noch fliessend Wasser in einigen Haushalten, je nachdem ob das Haus noch steht oder beschädigte Wasserleitungen wieder repariert werden konnten", berichtet Lejeune. Doch laut Angaben des ehemaligen Botschafters Palästina in Deutschland, Abdallah Frangi, sollen mittlerweile mehr als 600.000 Bewohner im Gazastreifen obdachlos sein. "Diese Menschen sind in Moscheen, Schulen oder Kirchen untergekommen und werden von der Flüchtlingsorganisation UNRWA oder der Islamic Relief Organisation mit Wasser und Lebensmitteln versorgt. Es gibt hier für sowas bereits eingespielte Strukturen", sagt Lejeune.

Sanitäter nutzen den Waffenstillstand, um Schwerverletzte zur Behandlung in israelische oder ägyptische Krankenhäuser zu bringen. "In manchen Fällen wird den entsprechenden Anträgen stattgegeben, in anderen nicht", sagt Lejeune. Auf welcher Basis selektiert werde, lasse sich in den Kriegswirren aber schwer recherchieren. Fest steht, dass in den vergangenen Wochen palästinensische Ärzte aus Ostjerusalem für ein paar Tage in den Gazastreifen kommen konnten, um nicht transportfähige Patienten vor Ort zu behandeln.

Arm und perspektivlos

Doch auch wer unverletzt ist, ist unglücklich. "Viele haben keine Arbeit mehr, weil ihre Felder vernichtet wurden oder ihre Geschäfte in Schutt und Asche liegen", sagt Lejeune. Das wird die Arbeitslosenquote, die Schätzungen zufolge bei 70 Prozent liegen soll, noch weiter in die Höhe treiben.

"Die Bevölkerung verarmt und die Menschen sehen für sich keine Zukunft", sagt Lejeune. Nicht einmal Fischer können noch von ihrer Arbeit leben, weil sie sich nicht weiter als umgerechnet zehn Kilometer weit von der Küste entfernen dürfen. "Aber das Schlimmste an ihrer Situation, haben mir junge Leute gesagt, ist nicht die Armut als vielmehr die Perspektivlosigkeit. Die Menschen erzählen, selbst wenn sie das Geld hätten, um nach Rom oder Paris zu fliegen – man kann den Gazastreifen nicht einfach so verlassen und fühlt sich deshalb wie in einem Freiluftgefängnis."

Wie lange Lejeune selbst noch in Gaza bleiben wird, weiss er nicht. Sein Visum ist drei Monate lang gültig.

Martin Lejeune ist seit 2007 freier Journalist und berichtet seit 2011 regelmässig aus dem Nahen Osten, u.a. für die Schweizer Wöchentliche "WOZ" und die deutsche Tageszeitung "taz". Auf tumblr schildert er momentan Alltagserfahrungen aus Gaza.
Jörg Knocha war bis zum Juli vier Jahre lang Programmmanager bei der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) Ramallah und häufig im Gazastreifen unterwegs.
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