Plötzlich explodieren im Libanon zeitgleich Hunderte Kommunikationsgeräte. Ein Zusammenhang mit den sich zuspitzenden Spannungen zwischen der Hisbollah und Israel liegt nahe. Eine neue Eskalation.
Der Konflikt zwischen Israel und der schiitischen Hisbollah-Miliz spitzt sich weiter zu: Bei mutmasslich koordinierten Explosionen vieler tragbarer Funkempfänger sind im Libanon rund 2.750 Menschen verletzt und neun Menschen getötet worden. Der Zustand von rund 200 Verletzten sei kritisch, erklärte der libanesische Gesundheitsminister Firas Abiad bei einer Pressekonferenz in der Hauptstadt Beirut. Die Hisbollah machte Israel für die zeitgleichen Explosionen der sogenannten Pager verantwortlich und kündigte Vergeltung für die "sündige Aggression" an.
Verletzt wurden nach Angaben der Hisbollah-Miliz auch Mitglieder der Organisation. Unter den Verletzten sollen auch Mitglieder der Elitetruppe Radwan gewesen sein. Zudem sollen hochrangige Hisbollah-Vertreter verletzt worden sein, wie eine der Miliz nahestehende Quelle bestätigte. Die Gründe für die zeitgleichen Explosionen würden untersucht, erklärte die Organisation.
Im Raum stand die Vermutung, dass Israel die Geräte als Angriff auf Hisbollah-Kämpfer gezielt zur Explosion gebracht haben könnte. Israels Armee kommentierte die Vorfälle zunächst nicht. Unmittelbar vor den Explosionen hatten israelische Medien über "dramatische Konsultationen" der politischen Führung berichtet.
In Videos von Überwachungskameras im Libanon war zu sehen, wie es etwa in Supermärkten zu kleineren Explosionen kam. Teils lagen Menschen danach am Boden. Die Explosionen ereigneten sich örtlichen Medien zufolge in den südlichen Vororten Beiruts, wo die Hisbollah besonders stark ist, sowie im Süden des Landes.
Panik in den Strassen
Augenzeugen berichteten von Panik in den Strassen Beiruts. Zahlreiche Krankenwagen waren im Einsatz. Das libanesische Gesundheitsministerium rief alle Krankenhäuser zu höchster Alarmbereitschaft auf und forderte die Menschen auf, keine Funkgeräte zu benutzen. Bei den explodierten Geräten soll es sich um tragbare Funkrufempfänger handeln, die auch als Pager bekannt sind. Das Ministerium rief zu Blutspenden auf.
Auch Irans Botschafter im Libanon, Modschtaba Amani, soll Medienberichten zufolge bei der Explosion eines Pagers verletzt worden sein. Dieser habe einem Leibwächter gehört, berichtete die iranische Nachrichtenagentur Tasnim. Zur Beobachtung sei Amani in ein Krankenhaus gebracht worden, hiess es. Die Hisbollah ist der wichtigste nicht-staatliche Verbündete der Islamischen Republik Iran.
Pager soll wichtiges Kommunikationsmittel der Hisbollah sein
Aus Sicherheitskreisen hiess es, die Hisbollah habe die Pager erst kürzlich in einer Lieferung erhalten. Das "Wall Street Journal" berichtete unter Berufung auf Hisbollah-Mitglieder, Hunderte von ihnen hätten solche Geräte. Die Geräte seien vermutlich mit Schadsoftware versehen gewesen, die zu einer Überhitzung und zur Explosion geführt hätten.
Experten gingen davon aus, dass es sich bei den Pagern um ein für die Miliz sehr wichtiges Kommunikationssystem handelte. Die Hisbollah ist demnach aus Sicherheitsgründen von Mobiltelefonen auf Pager umgestiegen - unter anderem, weil bei diesen der Aufenthaltsort nicht ermittelt werden kann. Damit - so die Logik - wären sie auch weniger anfällig für Überwachungsmassnahmen oder Angriffe der elektronischen Kriegsführung.
In Videos von Überwachungskameras im Libanon war zu sehen, wie es etwa in Supermärkten zu kleineren Explosionen kam. Teils lagen Menschen danach am Boden. Bilder aus Krankenhäusern zeigten überfüllte Räume mit blutenden Patienten.
Auch in Syrien, wo die Hisbollah und andere Iran-treue Milizen aktiv sind, kam es zu solchen Explosionen. Dabei seien 14 Hisbollah-Mitglieder verletzt worden, berichtete die Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte mit Sitz in London.
Washington: USA nicht vorab informiert
Die USA waren über die bevorstehende Massenexplosion von Pagern im Libanon, die sich gegen die Schiiten-Miliz Hisbollah richtete, nach Angaben aus Washington vorab nicht informiert und auch nicht daran beteiligt. "Ich kann Ihnen sagen, dass die USA nicht daran beteiligt waren und dass die USA nicht im Voraus von diesem Vorfall wussten", sagte der Sprecher des US-Aussenministeriums, Matthew Miller, am Dienstag in Washington. "Im Moment sammeln wir Informationen."
Zugleich mahnte die US-Regierung den Iran, nichts zu tun, was die derzeit angespannte Lage verschärft. "Wir möchten den Iran dringend bitten, diesen Vorfall nicht auszunutzen, um weitere Instabilität zu schaffen", sagte Miller. Der Iran unterstützt die Hisbollah im Libanon, die nach dem Beginn des Gaza-Krieges ihre Angriffe auf Israel intensiviert hatte.
UN: Explosionen im Libanon «äusserst besorgniserregend»
Nach den Pager-Explosionen im Libanon haben die Vereinten Nationen vor einer Eskalation zwischen Israel und der Hisbollah gewarnt. "Diese Entwicklungen sind äusserst besorgniserregend, insbesondere angesichts der Tatsache, dass dies in einem äusserst instabilen Kontext geschieht", sagte Sprecher Stéphane Dujarric in New York.
Die UN beobachteten die Situation. "Wir können die Risiken einer Eskalation im Libanon und in der Region nicht genug betonen", fügte Dujarric hinzu.
Israel spricht von Notwendigkeit eines Militäreinsatzes im Libanon
Nach fast einem Jahr Dauergefechten zwischen Israel und der Hisbollah mehrten sich zuletzt die Zeichen, dass der Konflikt zu einem offenen Krieg eskalieren könnte. Die Rückkehr der geflüchteten israelischen Bürger in ihre Wohnorte im Norden des Landes zählt nun - neben der Befreiung der Geiseln aus dem Gazastreifen und der Zerstörung der Hamas - zu Israels erklärten Kriegszielen.
Der einzige Weg dahin sei "ein militärischer Einsatz", sagte Israels Verteidigungsminister Joav Galant am Montag nach Angaben seines Büros bei einem Treffen mit US-Vermittler Amos Hochstein. Die Möglichkeit einer diplomatischen Lösung im Konflikt mit der Hisbollah rücke immer weiter in die Ferne, weil die Miliz ihr Schicksal mit der Hamas im Gazastreifen verbunden habe und sich weigere, den Konflikt zu beenden, sagte er demnach.
Konflikt zwischen Hisbollah und Israel
Seit Beginn des Gaza-Kriegs vor fast einem Jahr kommt es im Grenzgebiet fast täglich zu Konfrontationen zwischen der Hisbollah und dem israelischen Militär. Auf beiden Seiten gab es infolge des Beschusses Tote - die meisten von ihnen waren Mitglieder der Hisbollah. Erst am Dienstag wurden nach israelischen Angaben bei einem Angriff auf einen Ort im Südlibanon drei Hisbollah-Kämpfer getötet.
Insgesamt mussten seither rund 60.000 Israelis ihre Häuser und Wohnungen in vielen Dörfern sowie der Stadt Kiriat Schmona im Norden Israels verlassen. Viele Betroffene leben seit Monaten in vom Staat bezahlten Hotels. In mehreren Ortschaften im israelischen Grenzgebiet wurden Dutzende Häuser sowie Infrastruktur beschädigt. Das Militär ist in der Gegend schon immer präsent. Seit Beginn der Gefechte mit der Hisbollah gibt es dort aber etwa auch Kontrollpunkte der Armee auf von Zivilisten genutzten Strassen. Auch aus dem südlichen Libanon sind Tausende Menschen in andere Landesteile geflohen.
Der israelische Inlandsgeheimdienst Schin Bet erklärte, einen Bombenanschlag der Hisbollah auf einen ehemaligen ranghohen Sicherheitsvertreter Israels vereitelt zu haben. Die Attacke sei in den kommenden Tagen geplant gewesen, hiess es. Der Sprengsatz sei mit einem Fernzünder ausgestattet gewesen, verbunden mit einer Kamera und einem Handy. So hätte die Bombe demnach vom Libanon aus von der Hisbollah gezündet werden können.
Hisbollah auf "jegliches Szenario" vorbereitet
Unter Generalsekretär Hassan Nasrallah hat die Hisbollah mit Unterstützung aus Teheran ihren Einfluss stetig ausgebaut. Dieser reicht tief in den von Krisen gelähmten libanesischen Staat. Die Organisation kontrolliert vor allem den Süden an der Grenze zu Israel, von Schiiten bewohnte Viertel der Hauptstadt Beirut sowie die Bekaa-Ebene im Norden des Landes. Die Hisbollah sieht sich auf "jegliches Szenario" vorbereitet, wie es aus informierten Kreisen hiess.
Beobachter gehen von weiteren militärischen Aktionen aus
Beobachter gehen davon aus, dass es in naher Zukunft zu weiteren und womöglich grösseren militärischen Zusammenstössen zwischen Israel und der Hisbollah kommen könnte. Das mögliche Ausmass der Konfrontation sei jedoch unklar, sagte Riad Kahwaji, Direktor des Institute for Near East and Gulf Military Analysis (INEGMA), der dpa. Auch innerhalb der israelischen Regierung gebe es dazu verschiedene Meinungen. Ein israelischer Einsatz mit Bodentruppen im Libanon ist nach Einschätzungen des politischen Analysten Makram Rabah wahrscheinlich. "Aber es ist eine Frage des Timings", sagte er.
Bericht: Umfassender Krieg mit Hisbollah näher als je zuvor
Die israelische Zeitung "Jerusalem Post" meldete unter Berufung auf politische und militärische Kreise derweil, Israel sei einem umfassenden Krieg mit der Hisbollah näher als je zuvor. Ein grossangelegter Krieg sei für alle Seiten aber weiter riskant.
Israel will durch militärischen und diplomatischen Druck erreichen, dass sich die Hisbollah-Miliz wieder hinter den 30 Kilometer von der Grenze entfernten Litani-Fluss zurückzieht - so wie es die UN-Resolution 1701 vorsieht.
Weitere Vermittlungsbemühungen um Waffenruhe im Gazastreifen
US-Aussenminister Antony Blinken will sich bis Donnerstag in Ägypten für eine Wiederbelebung der Gespräche zur Beendigung des Gaza-Kriegs einsetzen. Ein Abkommen zwischen Israel und der Hamas scheint derzeit so gut wie ausgeschlossen. Israel will die Hamas in dem Krieg zerstören - doch immer wieder kommen auch viele unbeteiligte Palästinenser ums Leben. Ägypten, Katar und die USA haben bisher monatelang erfolglos in dem Konflikt vermittelt. (dpa/bearbeitet von phs)
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