Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine und der Krieg in Nahost nach der Terrorattacke der Hamas halten die Weltöffentlichkeit in Atem. Zuletzt hatten Berichte über unter Drogen stehende russische Soldaten die Runde gemacht. Welche Rolle Drogen in Kriegen spielen, erklärt Dr. Karam Shaar.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Matern sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Seit dem 24. Februar 2022 beschäftigt der russische Angriffskrieg auf die Ukraine die Weltöffentlichkeit. Anfang Oktober 2023 verschob sich dann die Aufmerksamkeit mit dem Terrorangriff auf Israel durch die radikal-islamistische Hamas. Aus beiden Kriegen gelangen Bilder menschlicher Gräueltaten und Grausamkeiten in die Welt, bei denen die Frage nach dem "Warum" und der Erklärbarkeit solcher Entmenschlichungen kaum beantwortbar erscheint.

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Der Militärhistoriker John Keegan hat unter anderem in seinem Buch "A history of warfare" (Deutscher Titel: "Die Kultur des Krieges") auf die Frage, warum Menschen überhaupt kämpfen und in letzter Konsequenz auch töten, drei Teilantworten formuliert: Zwang, Überzeugung und Narkose. Letzterer Begriff verweist auf einen veränderten Bewusstseinszustand.

Karam Shaar vom Newlines-Institut für Strategie und Politik merkt im Gespräch mit unserer Redaktion an, dass vor allem Amphetamine schon lange mit Kriegen in Verbindung gebracht werden: "In dieser Hinsicht war einer der frühesten Gebräuche von Amphetamin-Drogen tatsächlich der Blitzkrieg der Nazis. Die soziale Wahrnehmung dieser Droge war zwar eine andere, aber in diesem Fall ist die Anwendung gut dokumentiert."

Drogen im Zweiten Weltkrieg: "Eindrucksvoll ist die Verringerung des Schlafes"

Während schon im 2. Jhd. v. Chr. Alkohol von Soldaten konsumiert wurde – der Wein der Antike wurde meist stark verdünnt getrunken und war als Lebensmittel meist gesünder als verschmutztes Wasser – wird destillierter Alkohol erstmals im 16. Jahrhundert zum Kriegsphänomen, so der Militärhistoriker Ilja Stefflbauer zu "derstandard.de". Alkohol taucht als Droge auch in einigen kontemporären Berichten über die niedrige Moral russischer Truppen auf, wenngleich über das Ausmass des Konsums keine Klarheit herrscht.

Durch wissenschaftlichen Fortschritt und damit einhergehende neue chemische Verfahren veränderte sich die Verfügbarkeit von Drogen zu Beginn des 20. Jahrhunderts wesentlich und entfaltete ihre Wirkung auf breiter Fläche erstmals im Ersten Weltkrieg. So sind der Einsatz von Kokain für die Flugzeugpiloten und die Gabe des Schmerzmittels Morphin belegt. Die vielen Morphin-Abhängigen wurden in der Zwischenkriegszeit als "Morphinisten" bezeichnet.

Im Zweiten Weltkrieg folgte dann die Gabe von Amphetaminen und Methamphetaminen, wie Experte Shaar erklärt. Das in der Weimarer Republik vorherrschende Kokain wurde durch Pervitin abgelöst. Die Berliner Firma Temmler produzierte dieses Arzneimittel und es wurde unter anderem an Gefangenen in Konzentrationslagern getestet. Die "taz" zitiert aus einem ärztlichen Kriegstagebuch nach der Gabe von Pervitin: "Eindrucksvoll ist die Verringerung des Schlafes. Bei dieser Arzneiwirkung sind Veranlagung und Wille weitgehend ausgeschaltet." Bis 1945 sollen über 60 Millionen Pillen Pervitin an Soldaten des Dritten Reichs verabreicht worden sein.

Karam Shaar erklärt Wirkung der Drogen auf Amphetaminbasis

Pervitin wurde im Dritten Reich flächendeckend eingesetzt. Berühmt geworden ist die Droge aber auch durch den späteren Literaturnobelpreisträger Heinrich Böll, der als Wehrmachtssoldat von der Front an seine Familie schrieb und um die Droge bat (Heinrich Böll, Briefe aus dem Krieg: 1939-1945, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2001). Auch der Tiroler Bergsteiger Hermann Buhl soll 1953 bei seiner Erstbesteigung des 8000ers Nanga Parbat Pervitin genutzt haben. Es lässt sich, je nach genauer Zusammensetzung, heute als Speed, Meth oder Crystal bezeichnen. In Nazi-Deutschland sprach man dagegen von "Panzerschokolade" oder "Hermann-Göring Pillen".

Doch nicht nur aufseiten des Dritten Reiches wurden Drogen konsumiert. Auch die alliierten Truppen nutzten Amphetamine, wie beispielsweise für in England stationierte US-Truppen belegt ist. Karam Shaar erklärt dabei, warum es gerade Amphetamine sind, die in Kriegen immer wieder eingesetzt werden: "Drogen auf Amphetaminbasis wurden in der Vergangenheit nicht ohne Grund häufig verwendet. Sie gehören zur Familie der Stimulanzien des zentralen Nervensystems." Die Wirkung lasse sich allgemein als aufputschend beschreiben.

"Diese Drogen können dich für lange Stunden wachhalten. Sie verbessern die Konzentration und man kann sich besser fokussieren. So wurde beispielsweise Captagon als legale Medizin verwendet und in Deutschland entwickelt. Zunächst wurde dieses Mittel allerdings als Medikament zur Behandlung von ADHS benutzt", erklärt Wissenschaftler Shaar.

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Dementsprechend wenig verwunderlich ist ein Bericht des Royal United Service Institute vom Mai 2023, in dem ukrainische Militärs zitiert werden, denen zufolge russische Soldaten unter dem Einfluss narkotischer Substanzen gestanden haben sollen. Damit übereinstimmend berichtet der Radiosender Radio Free Europe/Radio Liberty von der Zunahme von Gerichtsurteilen in Russland wegen Drogenmissbrauchs in der Armee.

Anonyme Experten, die sich Radio Free Europe anvertrauten, sprechen mit Blick auf den russischen Angriffskrieg bereits von einer möglichen Krise in Bezug auf die Abhängigkeit der aus der Ukraine zurückkehrenden russischen Soldaten. Auch hier soll es vor allem um synthetische Amphetamine gehen. Die anonymen Analysten sprechen dabei auch von einer Zunahme von Drogenfällen innerhalb des Militärs.

Die Bedingungen für Drogenkonsum seien gerade in der von Russland besetzten ostukrainischen Stadt Donezk ideal. Radio Free Europe zitiert einen anonymen russischen Freiwilligen: "Es ist nicht schwer, Drogen zu kaufen. Soldaten, die von der Front kommen, vor allem diejenigen, die ihren Sold in bar bekommen können, nutzen dies aus. Und die Kommandeure neigen dazu, ein Auge zuzudrücken."

Verbreitung der Droge Captagon: Das Assad-Regime in Syrien profitiert

Zweifelhafte Berühmtheit hat in den vergangenen Jahren auch die von Karam Shaar hervorgehobene Droge Captagon gewonnen. So sollen die Attentäter von Paris 2015 dieses Mittel aufgrund der aufputschenden und mitunter enthemmenden Wirkung genommen haben. Und auch vor der Terrorattacke auf Israel am 7. Oktober 2023 sollen Hamas-Kämpfer Captagon-Pillen eingenommen haben. Laut israelischen Medien fanden israelische Soldaten das Mittel in den Taschen getöteter Hamas-Terroristen. Ein Sprecher der israelischen Armee bestätigte dies der "Neuen Zürcher Zeitung".

Shaar hat die Verbreitung dieser Droge in den arabischen Ländern Asiens in den vergangenen Jahren untersucht und berichtet im Gespräch mit unserer Redaktion von über einer Milliarde beschlagnahmter Captagon-Pillen zwischen 2019 und 2022. Hinter der logistischen Verbreitung steht demnach das Assad-Regime in Syrien. Über 70 Prozent der beschlagnahmten Drogen stammten aus den von Assad kontrollierten Gebieten, erzählt Shaar. Die Verbindung der Droge zur Hamas liegt zwar nahe, da die der Hamas nahestehende iranische Hisbollah ebenfalls als Hersteller und Verbreiter von Captagon identifiziert werden kann. Doch es gibt laut Shaar keine Beweise dafür, dass die Hamas ebenfalls an der Produktion und Verbreitung von Captagon beteiligt ist.

Shaar berichtet auch von den Versuchen der Eindämmung der Verbreitung der Droge. So hätten das Vereinigte Königreich, die USA und die EU damit begonnen, syrische und libanesische Lieferanten mit Sanktionen zu belegen. Auf der Basis einer riesigen Datenbank, die durch die Arbeit am New Lines Institute entstand, schlussfolgern Shaar und seine Kollegen aber, dass trotz des Versuchs der Eindämmung immer mehr Captagon die Verbraucher erreicht.

Systematischer Drogenmissbrauch in Armeen? Experte klärt auf

Während die Gabe von Drogen im Zweiten Weltkrieg zumindest aufseiten des Nationalsozialismus einem systematischen Muster folgte, gibt es solche Belege für die Kriege der Gegenwart laut Shaar nicht: "Wir haben praktisch nirgendwo Beweise dafür, dass Kämpfern diese Drogen eingeflösst wurden. Nicht in Syrien und auch nicht im jüngsten Angriff der Hamas auf Israel."

Dennoch spricht die von ihm und seinen wissenschaftlichen Kollegen belegte Verbreitung der Captagon-Pille dafür, dass diese auch von Soldaten und Kämpfern genommen wird: "Ich wäre nicht schockiert, wenn ein Kämpfer ein paar Pillen in der Tasche hätte", erzählt Shaar. "Die Captagon-Pille ist in der Region ziemlich verbreitet. Aber ob das etwas ist, was im grossen Stil und systematisch gemacht wird? Auf der Basis unserer Daten und der Beschlagnahmungen dieser Droge, die wir erfasst haben, würde ich sagen: Nein, das ist nicht der Fall."

Bei systematischer Anwendung müssten nämlich auch die Langzeitfolgen des Drogenkonsums in Kombination mit Kriegserfahrungen beachtet werden. Der britische Guardian berichtete 2006 beispielsweise von den Ehefrauen von US-Soldaten, die die Zerrüttung ihrer Männer beklagten: "Es ist mehr als wahrscheinlich, dass sie auf Speed völlig wegflippten, als sie die Zivilisten ermordeten", sagte die Frau eines Staff Sergeant der Marines. Auch die Heroinabhängigkeit von G.I.s, die aus dem Vietnam-Krieg zurückkehrten, gelten als bekannte negative Auswirkungen. Eine liberale Demokratie muss sich über solche Konsequenzen selbstredend mehr Gedanken machen als eine Terrororganisation.

Werden Menschen durch Drogen brutaler?

Eine systematische Verabreichung von Amphetaminen kann aufgrund bekannter negativer Auswirkungen solcher Drogen kaum das Ziel moderner Armeen sein. Das war auch den Nationalsozialisten klar. So zitiert die "taz" den Reichsgesundheitsführer Leonardo Conti: "Wer Ermüdung mit Pervitin beseitigen will, der kann sicher sein, dass der Zusammenbruch seiner Leistungsfähigkeit eines Tages kommen muss. Dass das Mittel einmal gegen Müdigkeit für einen Hochleistungsflieger, der noch zwei Stunden fliegen muss, angewendet werden darf, ist wohl richtig. Es darf aber nicht angewendet werden bei jedem Ermüdungszustand, der in Wirklichkeit nur durch Schlaf ausgeglichen werden kann. Das muss uns als Ärzten ohne weiteres einleuchten."

So kann zwar die temporäre Verlängerung der Leistungsfähigkeit in Kriegen strategisch genutzt werden. Doch dabei darf gleichermassen nicht vergessen werden, dass der menschliche Körper eine dementsprechende Ruhezeit früher oder später einfordern wird. Und ob Menschen durch die Einnahme von Drogen brutaler werden, kann nicht pauschal beantwortet werden, so Karam Shaar.

"Captagon ist beispielsweise ein Stimulans für das zentrale Nervensystem und es wirkt sich auf den gesamten Körper aus. Wie bei allen Stimulanzien ist es jedoch so, dass es den Körper anfangs anregt und dann auch wieder abklingt." Die Auswirkungen auf den Konsumenten würden deshalb im Wesentlichen davon abhängen, was dessen Vorhaben sei und welche Veranlagungen er aufweise: "Seine genetische und hormonelle Veranlagung, sein Umfeld und so weiter. Wer Captagon einnimmt, um härter zu lernen, wird härter lernen. Wer es zum Feiern einnimmt, wird länger feiern. Und wenn man es einnimmt, um länger Auto fahren zu können, dann funktioniert auch das."

Über den Gesprächspartner

  • Dr. Karam Shaar ist politischer Ökonom und Non-Resident Senior Fellow am Newlines Institute. Neben seiner Arbeit bei Newlines ist Dr. Shaar Berater für die politische Ökonomie Syriens und Gründungspartner der Beobachtungsstelle für politische und wirtschaftliche Netzwerke. Seine Arbeit konzentriert sich auf die Bereiche Makroökonomie, Entwicklungshilfe, Sanktionen, Energie, Akteurskartierung und illegale Ökonomie. Zuvor war er Non-Resident Scholar am Middle East Institute, Forschungsdirektor des Operations and Policy Center, leitender Analyst im neuseeländischen Finanzministerium und Dozent für Nahostpolitik. Er publiziert oder fungiert als Experte regelmässig für Medien wie die Washington Post, CNN, New York Times und andere. Zuletzt erschien im Spiegel "Syriens Wirtschaft steuert weiter auf den Zusammenbruch zu".

Verwendete Quellen

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