Vorerst soll auch von der EU kein Geld mehr nach Palästina fliessen. Die Hilfszahlungen werden einer Prüfung unterzogen. Ganz aufgeben will man sie aber offenbar nicht, da man fürchtet, der Hamas damit in die Karten zu spielen.

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In der EU gibt es heftigen Streit über die richtige Reaktion auf den Angriff der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel. EU-Ratspräsident Charles Michel kritisierte am Montagabend mit deutlichen Worten die deutsche Entscheidung, die Finanzhilfen für die Zusammenarbeit mit den palästinensischen Gebieten vorübergehend auszusetzen. Der Belgier warnte, ein Stopp von dringend benötigter Entwicklungshilfe und humanitärer Hilfe für palästinensische Zivilisten könnte von der Hamas ausgenutzt werden und Spannungen und Hass verschärfen.

Spannungen gab es wegen des Themas auch innerhalb der EU-Kommission von Ursula von der Leyen. Die Behörde musste deswegen am Montagabend sogar Ankündigungen zum Einfrieren von Entwicklungshilfezahlungen relativieren. Demnach werden nicht, wie zuvor vom zuständigen EU-Kommissar Oliver Varhelyi angekündigt, alle Zahlungen sofort ausgesetzt.

Am Abend hiess es aus Kommissionskreisen, es sei tatsächlich vereinbart worden, bis zum Abschluss einer Überprüfung der Hilfen keine Gelder auszuzahlen. Es sei aber auch richtig, dass derzeit keine Zahlungen anstünden.

Der Ungar Varhelyi hatte die Entscheidung demnach eigenmächtig und voreilig kommuniziert. Ursprünglich soll vorgesehen gewesen sein, zunächst die Mitgliedstaaten zu informieren, damit das Thema dann auch bei dem für diesen Dienstag geplanten Sondertreffen der Aussenminister mit dem EU-Aussenbeauftragten Josep Borrell besprochen werden kann.

Borrell verteidigt Zahlungen an Palästina

Borrell, der auch Mitglied der EU-Kommission ist, hatte nach der nicht abgesprochenen Mitteilung Varhelyis auf eine Klarstellung gedrungen. Im Anschluss schrieb er, die Aussetzung von Zahlungen wäre aus seiner Sicht einer Bestrafung des gesamten palästinensischen Volkes gleichgekommen und hätte den EU-Interessen in der Region geschadet. Zudem wären die Terroristen nur noch mehr ermutigt worden.

Gegen eine Aussetzung von Zahlungen spricht aus Sicht von Borrell auch eine erste Analyse, nach der bereits jetzt sehr klar sei, dass die EU weder direkt noch indirekt die Aktivitäten der Hamas oder anderer Terrororganisationen finanziert. Aus dem Umfeld Borrells hiess es in der Nacht zum Dienstag, die Meinung des EU-Aussenbeauftragten zur Aussetzung von Zahlungen werde von einer "signifikanten Anzahl an EU-Mitgliedstaaten und internationalen Partnern" geteilt.

Borrell und mehrere EU-Minister sind am Dienstag in Maskat, der Hauptstadt des Sultanats Oman, um an einem Treffen der EU mit dem Golf-Kooperationsrat (GCC) teilzunehmen. Die Krisensitzung der EU-Aussenminister findet daher zum Teil per Videokonferenz statt. Gesprochen werden soll nach Angaben von Borrells Sprecher über die Auswirkungen des Hamas-Angriffs auf Israel und die Reaktionen der EU.

EU schickt etwa 600 Millionen Euro pro Jahr an Entwicklungshilfe nach Palästina

Relevant sind die Diskussionen, weil die EU und ihre Mitgliedstaaten nach Angaben von Kommissionspräsidentin von der Leyen mit einem Beitrag von etwa 600 Millionen Euro pro Jahr der grösste Geldgeber der Palästinenser sind. Allein aus dem EU-Haushalt waren für den Zeitraum 2021 bis 2024 Finanzhilfen von 1,18 Milliarden Euro vorgesehen.

Mit der EU-Hilfe für die Palästinenser werden nach Kommissionsangaben vom Montag bislang vor allem die Finanzierung wichtiger Unterstützungsleistungen für die palästinensische Bevölkerung sowie die der Autonomiebehörde gefördert. Als konkrete Beispiele nennt die Behörde den Gesundheitssektor, Sozialhilfeleistungen für arme Familien sowie Entwicklungsprojekte in Bereichen wie demokratische Regierungsführung, Rechtsstaatlichkeit, Wasser, Energie und wirtschaftliche Entwicklung. Zudem wird auch das Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge im Nahen Osten unterstützt.

Wie es mit den Hilfen langfristig weitergeht, wird vermutlich frühestens nach der Überprüfung der EU-Kommission entschieden. Dass alle Zahlungen eingestellt werden, gilt dabei als äusserst unwahrscheinlich. Die am Montag erfolgten Ankündigungen zum Einfrieren von Zahlungen seien vor allem auch als politisches Unterstützungssignal an Israel zu interpretieren, sagte eine ranghohe EU-Diplomatin. Es sei aus ihrer Sicht auch nicht damit zu rechnen, dass Deutschland die Zusammenarbeit mit den palästinensischen Gebieten am Ende vollständig stoppe.

Deutschland prüft Finanzhilfen für Palästina

Das deutsche Entwicklungsministerium (BMZ) hatte am Montag angekündigt, die Finanzhilfen für die Zusammenarbeit mit den palästinensischen Gebieten vorübergehend auszusetzen. Die Programme würden nun umfassend und mit offenem Ausgang überprüft, sagte eine Sprecherin des Ministeriums am Montag in Berlin.

Das BMZ hatte nach eigenen Angaben ursprünglich für dieses und nächstes Jahr rund 125 Millionen Euro an bilateraler Entwicklungszusammenarbeit grundsätzlich zugesagt. Dabei geht es um längerfristige Programme. Eine Sprecherin nannte Wasserversorgung und -entsorgung, eine Entsalzungsanlage, berufliche Bildung, die Schaffung von Arbeitsplätzen für junge Leute und Ernährungssicherung als Beispiele.

Der SPD-Aussenpolitiker Michael Roth hat die Bundesregierung aufgefordert, alle Hilfen für die Palästinenser auf den Prüfstand zu stellen. "Alles, was auch nur im Verdacht steht, in irgendeiner Weise einer Terrororganisation behilflich zu sein, muss gestoppt werden", sagte Roth am Dienstag im Deutschlandfunk. Dabei gehe es aber nicht um die Infragestellung von humanitärer Hilfe im engsten Sinne. "Alles andere kann ich mir in diesen Zeiten schwerlich vorstellen", betonte der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags. Es müsse deshalb "wirklich alles" auf den Prüfstand.

"Sämtliche Vorhaben mit den palästinensischen Gebieten sind immer schon sehr, sehr gründlich überprüft worden", sagte die BMZ-Sprecherin. "Wahrscheinlich ist es das am besten überprüfte Portfolio des gesamten BMZ." Ein Sprecher des Auswärtigen Amtes sagte, bei den deutschen Projekten werde "in jedem Fall die aussenpolitische Unbedenklichkeit von Projektpartnern" geprüft. Er sagte: "Dabei wird selbstverständlich auch genau untersucht, ob es mögliche Terrorismus-Bezüge gibt."

Finanzierungsstopps, die auch Auswirkungen auf die humanitäre Hilfe haben können, sind stets eine Gratwanderung. Vor allem in dem von der Hamas kontrollierten und dicht besiedelten Gazastreifen mit seinen mehr als zwei Millionen Menschen sind viele Zivilisten abhängig von internationalen Hilfslieferungen. Geld bekommt auch die Palästinensische Autonomiebehörde, die in Gegnerschaft zu der von der EU, den USA und Israel als Terrororganisation eingestuften Hamas steht. Sie bezahlt damit zum Beispiel Mitarbeiter und Sozialhilfeleistungen an bedürftige Familien. (AFP/dpa/the)

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