Israel hat nach dem Terror der Hamas mit Gegenangriffen begonnen und Truppen mobilisiert. Beobachter rechnen mit einer baldigen Bodenoffensive im Gazastreifen. Experte Gustav Gressel erklärt, was die israelischen Soldaten dort erwartet und welche Länder noch Kriegspartei werden könnten.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Alles deutet darauf hin, dass Israel sich nach den Terrorangriffen der Hamas am Samstag (9.) für eine blutige Gegenoffensive im Gazastreifen rüstet. Die Marschroute: "Wir werden alle Orte, an denen die Hamas organisiert ist und sich versteckt, in Trümmerinseln verwandeln", kündigte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanyahu in einer Ansprache an. Israel werde versuchen, der Hamas "das Genick zu brechen".

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Kurzfristig sind 300.000 Reservisten einberufen worden. In den vergangenen Tagen war bereits zu beobachten, wie sich grosse Truppen um das palästinensische Autonomiegebiet versammelten. Vier Divisionen mit schätzungsweise 40.000 bis 50.000 Mann sollen in Stellung gebracht worden sein.

Gefahr für Geiseln steigt

Eine mögliche Bodenoffensive bringt gleich mehrere Herausforderungen mit sich. Zum einen hat die Hamas rund 150 Zivilisten als Geiseln verschleppt – unter anderem vom "Nature Party Festival". Diese würden nun einer grossen Lebensgefahr ausgesetzt, denn die Hamas hat angekündigt, jedes Mal eine Geisel zu erschiessen, wenn ohne Vorwarnung ein Wohnhaus getroffen wird.

Zum anderen muss Israel seine Nordgrenze zum Libanon im Blick behalten, von wo eine Infiltration droht, und sieht sich der Gefahr eines Mehr-Fronten-Krieges ausgesetzt. "Wie weit die israelische Armee in den Gazastreifen eindringen wird, hängt davon ab, wie schnell sie an die festgesetzten Geiseln herankommt oder nicht", glaubt Militärexperte Gustav Gressel. Es werde auch davon abhängen, wie gut die nachrichtendienstliche Lage darüber ist, wohin die Geiseln verschleppt wurden und wo sie gefangen gehalten werden.

Blutige Häuserkämpfe drohen

"Israel braucht Massen an Bodentruppen, um in den Gazastreifen reinzugehen", betont er. Es gebe dort viel bebautes Gebiet, das verschlinge enorm viel Infanterie. Aufgabe der Streitkräfte sei es, Raum für Raum und Korridor für Korridor durchzugehen und zu sichern.

Beobachter rechnen deshalb mit blutigen Strassengefechten und grossen Verlusten in der Zivilbevölkerung. Der drohende Häuserkampf wird als extrem schwierige und komplizierte Operationsart eingestuft. Hinzukommt, dass das Gebiet zu grossen Teilen untertunnelt ist, was der Hamas Versteckmöglichkeiten bietet. Auch mit Sprengfallen müssen die israelischen Soldaten rechnen. Anders als die Hamas kennen sie das Terrain nicht so gut und wissen nicht, wo sich Kämpfer verstecken oder Waffendepots befinden. Dennoch wird die israelische Armee als militärisch deutlich überlegen eingestuft.

Zustand der Kräfte schwer zu beurteilen

"Allerdings haben die Israelis längere Zeit keine Mobilmachungs-Übung mehr gemacht. In welchem Zustand die Kräfte sind, ist daher nicht seriös von aussen zu beurteilen", sagt Gressel. Es sei möglich, dass sie vorab erst trainierten, bevor sie sich in den Kampf begeben würden.

"Die israelischen Streitkräfte haben sich in den vergangenen Jahren immer eher auf kleinere, sehr gezielte Operationen konzentriert, die alle sehr gut geplant und vorbereitet waren", erinnert er. Nun seien sie gezwungen, ohne viel Vorbereitung und ohne ausreichende nachrichtendienstliche Informationen zu reagieren.

Andere Akteure abschrecken

"In der Anfangsphase hat der Gegner die Initiative gehabt. Das ist eine ganz andere Nummer als das, was die Israelis in den letzten zehn Jahren hatten", betont Gressel. Der Ausgang sei daher enorm schwer abzuschätzen.

Bei der "Operation Gegossenes Blei", die zum Jahreswechsel 2008/2009 stattfand, waren die Armee mit hunderten Panzern und gepanzerten Fahrzeugen in den Gazastreifen eingerückt. Damals kam es zu heftigen Strassengefechten, 13 israelische Soldaten und mehr als 1.400 Palästinenser kamen ums Leben. Die Kämpfe endeten mit einem Waffenstillstand.

Aus Sicht von Gressel mobilisieren die Israelis nun auch, um andere Akteure abzuschrecken, überhaupt loszuschlagen. "Der Norden scheint derzeit relativ ruhig zu bleiben", beobachtet der Experte. Man verzeichne keinen massiven Raketenbeschuss durch die Hisbollah, es erfolgten eher symbolische Handlungen. "Man sieht sie nicht entschlossen handeln", kommentiert Gressel.

Wusste die Hisbollah von dem Angriff?

Deshalb sei fraglich, ob die Hisbollah wirklich von dem Angriff gewusst habe. "Jeder Tag, der verstreicht, hilft den Israelis, Informationen darüber zu sammeln, wie es auf der Hamas-Seite aussieht", sagt Gressel. Er geht derzeit nicht davon aus, dass die Hisbollah koordiniert in den Krieg einsteigt. "Das würde den Israelis die Möglichkeit geben, sich auf den Gazastreifen zu konzentrieren", sagt er.

Ob sich das ändere, sei aber nicht absehbar. Wenn die Hisbollah doch voll hineingehe und mit ihren starken Raketenkräften auf israelische Luftwaffenbasen schiessen würde, dann würden sie die israelischen Operationen aus Gressels Sicht zumindest für eine gewisse Zeit enorm behindern, wenn nicht extrem schädigen.

Syrien als mögliche Kriegspartei

Offen bleibt auch die Frage, ob ein Mehr-Fronten-Krieg droht. Beobachter haben zum einen das Westjordanland inklusive Ostjerusalem als Gefahr für einen Flächenbrand im Blick. Andererseits besteht aber theoretisch auch die Gefahr, dass sich militante Gruppen aus Syrien in den Konflikt einmischen.

"Ob Syrien gleichzeitig einen Krieg mit Israel riskieren würde, ist offen. Es wäre für Israel extrem schwierig, einen Drei-Fronten-Krieg zu führen gegen Aufständler aus der Westbank und aus einem möglichen Libanon-Syrien-Angriff", sagt Gressel. Die Syrer seien derzeit allerdings enorm geschwächt, weil die Russen mit dem Ukraine-Krieg beschäftigt seien. Ausserdem habe ein langer Bürgerkrieg an der Armee, der Ausrüstung und den Leuten gezehrt.

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Viele Fragen offen

So bleiben auch bei Beobachtern und Kennern derzeit insgesamt mehr Fragen offen, als es Antworten gibt. Und damit ist eine entscheidende Frage noch gar nicht thematisiert: Was würde nach der Offensive im Gazastreifen passieren? Soll er langfristig besetzt werden und wer kontrolliert ihn?

In der Öffentlichkeit vernimmt man dazu bislang nichts. Ausgeklammert werden kann die Frage aber nicht: Denn ein militärischer Sieg der Israelis im Gazastreifen übersetzt sich nicht mit einer De-Radikalisierung und Schaffung von Perspektiven der Menschen vor Ort.

Zur Person:

  • Gustav Gressel ist Experte für Sicherheitspolitik, Militärstrategien und internationale Beziehungen. Er absolvierte eine Offiziersausbildung und studierte Politikwissenschaft an der Universität Salzburg.
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