Die Siedlungen im Westjordanland stellen schon seit Langem eine Hürde bei einer friedlichen Lösung des Nahostkonflikts dar. Zuletzt war die von radikalen Siedlern ausgehende Gewalt zu einem immer grösseren Problem geworden.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Weyell sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Nach den USA und Grossbritannien hat nun auch Frankreich Sanktionen gegen radikale israelische Siedler erlassen und reagiert damit auf die wachsende Gewalt, die von der Bewegung im Westjordanland ausgeht. "Diese Massnahmen werden ergriffen, nachdem es in den vergangenen Monaten vermehrt zu Gewalttaten von Siedlern gegen die palästinensische Bevölkerung gekommen ist. Frankreich bekräftigt seine entschiedene Verurteilung dieser inakzeptablen Gewalttaten", heisst es in der Erklärung. Die Siedlungen stünden demnach einer Zwei-Staaten-Lösung im Weg, obwohl diese die einzige Möglichkeit für eine Beendigung des Nahostkonflikts darstelle.

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Tatsächlich sind die Siedlungen laut Internationalem Gerichtshof und den Vereinten Nationen völkerrechtswidrig. Trotzdem leben im Westjordanland und Ost-Jerusalem rund 700.000 israelische Siedler in ungefähr 262 Ortschaften. Das Gebiet wurde während des Sechstagekrieges 1967 durch die israelische Armee erobert und anschliessend immer weiter besiedelt.

"Zunächst war es nicht so gedacht, dass Israel die Gebietsgewinne nach dem Sechstagekrieg dauerhaft behält", sagt der israelische Historiker Noam Zadoff gegenüber unserer Redaktion. Es ging ihm zufolge anfangs vor allem darum, die Gebiete als Pfand zu behalten für Verhandlungen. Erst nach dem Yom-Kippur-Krieg 1973 begann die Besiedlung.

Wer sind die Siedler im Westjordanland?

Laut Peter Lintl von der Stiftung Wissenschaft und Politik gebe es nicht "die Siedlerbewegung". Stattdessen lassen sich die Siedler grob in drei Gruppen einteilen:

  • Zunächst einmal sind da die religiös-fundamentalistischen Siedler, die aus Überzeugung im Westjordanland siedeln. Sie glauben, durch die Besiedlung des Westjordanlandes das Erscheinen des jüdischen Messias zu bewirken.
  • Dann gibt es noch die pragmatischen Siedler. Sie sind nicht nur von politischen Überzeugungen getrieben, sondern auch durch günstigeres Bauland dazu ermutigt worden, im Westjordanland zu siedeln. Sie sind vor allem entlang der Grünen Linie zu finden. Die Grüne Linie ist die Demarkationslinie aus dem Waffenstillstandsabkommen von 1949, die auch die Grenzen eines möglichen palästinensischen Staates mit Israel beschreibt.
  • Inzwischen kommen zusätzlich die ultraorthodoxen Siedler hinzu, die in der näheren Umgebung von Jerusalem leben wollen und sich in der Stadt selbst keine Wohnung leisten können und daher im angrenzenden Westjordanland siedeln. Sie sind unter den Siedlern die grösste Gruppe.

Wie radikal sind die Siedler?

"Die Siedlerbewegung war zunächst eine zionistische Bewegung", erklärt der israelische Historiker Noam Zadoff. Es gebe auch rechtsradikale Strömungen innerhalb der Siedlerbewegung, aber das seien längst nicht alle. Eher verbindet sie folgende politische Ansicht: "Sie glauben grundsätzlich, dass der Staat Israel souverän sein soll innerhalb der 1967 eroberten Gebiete."

Peter Lintl fasst es so zusammen: "Alle Siedler sind politisch rechts." Sie wollen mit der Besiedlung des Westjordanlands ihr vermeintliches Recht auf dieses Gebiet unterstreichen und klarmachen, dass es ebenfalls zu Israel gehöre. Diese Ansicht sei allerdings inzwischen Mainstream geworden innerhalb der israelischen Rechten und Teil des Koalitionsvertrages, führt Lintl weiter aus. Mit Itamar Ben-Gvir und Bezalel Smotrich sind zwei populäre und extremistische Figuren der Siedlerbewegung selbst in der israelischen Regierung vertreten.

Finanzminister Smotrich hatte zuletzt die Palästinenser im Gaza-Streifen aufgefordert, diesen zu verlassen und sich für eine Wiederansiedlung von Israelis ausgesprochen. Die letzten israelischen Siedlungen im Gaza-Streifen wurden 2005 durch das Militär geräumt und das Gebiet anschliessend der palästinensischen Autonomiebehörde zur Selbstverwaltung überlassen. Für viele Anhänger der Siedler-Bewegung stellt dies ein nachhaltiges Trauma dar.

Ein Teil der Siedler ziele darüber hinaus auf einen Bevölkerungsaustausch im Westjordanland ab, laut Peter Lintl. Es werde aktiv daran gearbeitet, die Palästinenser von dort zu vertreiben. Gerade männliche Siedler reagieren da auch gewalttätig. Die Siedler-Gewalt habe drastisch zugenommen in den vergangenen Jahren, weiss der Nahost-Experte. Die Aggression richtet sich dabei inzwischen gelegentlich auch gegen das israelische Militär, das eigentlich für den Schutz der Siedler verantwortlich ist.

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Welche Rolle spielen die Siedlungen für den Nahost-Konflikt?

Sie sind laut Peter Lintl eine der grossen Streitfragen, die historisch gesehen einer Zweistaaten-Regelung im Wege standen: "Die Siedlungen sind natürlich auch dazu gedacht, einen palästinensischen Staat zu verunmöglichen." Letztlich sei der Friedensprozess aber auch aus anderen Gründen gescheitert.

Die Siedlungen sind auch innerhalb Israels heiss diskutiert worden, sagt der israelische Historiker Zadoff: "In den 1980er-Jahren gab es im Zuge der Friedensbewegung starke Kritik an den Siedlern."

Die Strassen, die die Siedlungen miteinander verbinden, durchschneiden das Gebiet der Palästinenser und trennen die Einwohner von den grossen Städten wie Bethlehem und Ramallah ab. Die Europäische Union kritisierte entsprechende Pläne für den Strassenbau im Mai 2023. Ausserdem betreibt das israelische Militär zahlreiche Strassensperren und Blockaden im Westjordanland, die angeblich der Überwachung und Vereitelung von Sprengstoffanschlägen dienen. Das Leben der Palästinenser vor Ort wird dadurch massiv erschwert.

Friedensforscherin Claudia Baumgart-Ochse erklärt hierzu gegenüber unserer Redaktion: "Die Siedlungen führen dazu, dass es keinen territorialen Zusammenhang für die Palästinenser gibt, sondern einen Flickenteppich." Sollte man verhandeln, müsste man klären, wie man mit diesen Siedlungen umgeht. Möglich wäre, manche zu räumen. Einige Gebiete könnten auch Israel zugeschlagen werden. Das sei sogar bereits ein Vorschlag des ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton gewesen.

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Welchen Bezug haben radikale jüdische Siedler zur israelischen Regierung unter Benjamin Netanyahu und dem Militär?

"Aktuell haben wir die am weitesten rechts stehende Regierung, die Israel jemals hatte", erklärt Friedensforscherin Baumgart-Ochse. Ihr zufolge sind die Siedler zwar keine Marionetten der Regierung, die beiden Seiten begünstigten sich aber gegenseitig. "Mit Smotrich und Ben-Gvir sind zwei radikale Siedler in Schlüsselpositionen der israelischen Regierung." Regierungschef Netanyahu sei hingegen "kein Siedler-Ideologe". Ihm gehe es vor allem um die Sicherheit Israels und seine eigene Karriere. Netanyahu brauche die beiden Siedler-Vertreter Smotrich und Ben-Gvir aber als Koalitionspartner für seine Regierung.

Die ersten Siedler wurden nach dem Sechstagekrieg 1967 vom Militär vertrieben. Das änderte sich allerdings im Laufe der Jahre. Spätestens seit den 1970er-Jahren wurden die Siedlungen zur Regierungspolitik. Inzwischen ist es so, dass die israelische Regierung einige der Siedlungen genehmigt hat. Andere sind aber auch illegal errichtet worden und werden nur geduldet. Politologin Baumgart-Ochse: "Es gibt einen hohen Anteil von siedlernahen Soldaten im Militär. Da können Sie sich vorstellen, dass das Militär nicht immer so gegen die Gewalt der Siedler vorgeht, wie es erforderlich ist."

Die Friedensforscherin hält die Sanktionen gegen radikale Siedler durch die USA, Grossbritannien und Frankreich daher für gerechtfertigt, wenn ihnen Gewalttaten nachgewiesen werden können.

Über die Gesprächspartner

  • Peter Lintl ist Leiter des Projektes "Israel in einem konfliktreichen regionalen und globalen Umfeld: Innere Entwicklungen, Sicherheitspolitik und Aussenbeziehungen" der Stiftung Wissenschaft und Politik.
  • Claudia Baumgart-Ochse ist Politologin und Friedensforscherin. Sie forscht am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung.
  • Noam Ariel Zadoff ist ein israelischer Historiker und Hochschullehrer. Er ist Assistenzprofessor am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck.

Verwendete Quellen

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