Immer mehr Staaten rufen ihre Bürger dazu auf, den Libanon zu verlassen. Dahinter steht die Sorge, dass eine Bodenoffensive einen verheerenden neuen Krieg im Nahen Osten entfesseln könnte. Die Hoffnungen auf eine diplomatische Lösung schwinden von Tag zu Tag.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Adrian Arab sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Man muss sich den Rafik-Hariri-Flughafen in Beirut derzeit als betriebsamen Ort vorstellen. Immer mehr Staaten rufen in diesen Tagen ihre Bürger dazu auf, den Libanon zu verlassen. Auf direktem Wege ist das nur über den einzigen internationalen Flughafen in der Hauptstadt des Landes möglich.

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Warnung vor Reisen in den Libanon

Den Anfang machten Anfang Juni die USA, wenig später folgten Länder wie Kanada, Kuwait oder die Niederlande. Auch Saudi-Arabien und Russland warnen ihre Staatsbürger vor Reisen in das Land. Und die deutsche Bundesregierung hat die bestehende Reisewarnung zuletzt durch den Appell ergänzt, dass Deutsche den Libanon "dringend" verlassen sollten, weil bei einer weiteren Eskalation der Flugverkehr ab Beirut eingestellt werden könne. "Die Ausreise aus Libanon auf dem Luftweg wäre dann nicht mehr möglich", heisst es in der entsprechenden Reisewarnung..

Es sind Sätze, die an den Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan im Sommer 2021 erinnern – und sie zeigen, wie gross die Nervosität internationaler Diplomaten angesichts einer drohenden israelischen Bodenoffensive im Süden des Libanons ist. Seit dem 7. Oktober, dem Tag des Terrorüberfalls der Hamas auf den Süden Israels, kommt es immer wieder zu Auseinandersetzungen zwischen den israelischen Streitkräften (IDF) und der schiitischen Terrororganisation Hisbollah an der Grenze zwischen den beiden Ländern im Norden Israels.

Bereits einen Tag nach der Terrorattacke der Hamas hatten Elitetruppen der Hisbollah Anlagen zur Grenzsicherung zerstört, Israel reagierte seinerseits mit Artilleriebeschuss und Luftangriffen auf führende Mitglieder der Hisbollah. Stand heute sind bei den wechselseitigen Angriffen 28 Israelis getötet worden, auf libanesischer Seite sollen es 500 Menschen sein.

Intensität der Angriffe zugenommen

Gerade erst hat die Hisbollah als Reaktion auf die Tötung eines hochrangigen Kommandeurs nach eigenen Angaben mehr als 200 Raketen und 20 Drohnen auf Israel abgefeuert. Zwar hat die Intensität der Attacken seit Beginn zugenommen, ein wirklich heisser Krieg waren diese Auseinandersetzungen jedoch noch nicht.

Das könnte sich in den nächsten Wochen ändern, warnt etwa Deutschlands Aussenministerin Annalena Baerbock (Grüne). Eine Eskalation wäre aus Sicht internationaler Diplomaten vor allem deshalb gefährlich, weil dann die USA und der Iran in den Konflikt hineingezogen werden könnten.

So warnte die UN-Vertretung des Irans in New York am Samstagmorgen auf der Plattform X, sollte Israel eine umfassende militärische Aggression gegen den Libanon beginnen, "wird es zu einem vernichtenden Krieg kommen".

Was sich zwischen Israel und der radikalislamischen Hisbollah zusammenbraut hat, ist nicht weniger als eine explosive Mischung aus mangelnder Kompromissbereitschaft und gewaltigen Waffenarsenalen. Die Hisbollah fordert ein Ende des Gaza-Krieges, während Israel den Rückzug der libanesischen Miliz aus dem Grenzgebiet auf eine Linie hinter dem Fluss Litani fordert, so wie es eine UN-Resolution aus dem Jahr 2006 vorsieht.

"Die Hisbollah weiss sehr gut, dass wir im Libanon massiven Schaden anrichten können, wenn ein Krieg ausbricht."

Joav Galant, israelischer Verteidigungsminister

Notfalls, das hat der israelische Verteidigungsminister Joav Galant klar gemacht, werde Israel diese Forderung mit einem grossen Militäreinsatz durchsetzen. "Die Hisbollah weiss sehr gut, dass wir im Libanon massiven Schaden anrichten können, wenn ein Krieg ausbricht", so Galant. Und: Man könne das Nachbarland "in die Steinzeit zurückversetzen". Berichten zufolge trainiert der IDF schon seit Monaten den Einsatz von Bodentruppen im Grenzgebiet.

Sollte es zu einer Bodenoffensive kommen, dann müsste sich Israel nicht nur gegen weitaus besser ausgebildete Kämpfer als im Gazastreifen gefasst machen, sondern auch gegen ein Arsenal von rund 150.000 Raketen erwehren, über das die Hisbollah Schätzungen zufolge verfügt. Dass im Kriegsfall täglich tausende Flugkörper auf israelische Städte gefeuert werden könnten, dürfte selbst die israelische Raketenabwehr, die wohl den besten Raketenschutz der Welt garantiert, an ihre Leistungsgrenze bringen.

Dazu kommt: Im Vergleich mit der Hamas gilt die Hisbollah als schlagkräftiger und professioneller, ein durchschlagender Erfolg wäre damit noch deutlich schwieriger zu erzielen als im auch nicht gerade von militärischen Erfolgen geprägten Konflikt mit der Hamas. Das Council on Foreign Relations schätzte zuletzt die Zahl der der aktiven Kämpfer auf Seiten der Hisbollah auf rund 45.000, in einem Bericht des Zentrums für strategische und internationale Studien aus dem Jahr 2018 wird die Hisbollah gar als "der weltweit am schwersten bewaffnete nicht-staatliche Akteur" bezeichnet. Gut möglich, dass diese Zahlen heute deutlich nach oben korrigiert werden müssten.

"Die Kampfhandlungen zwischen Israel und Hisbollah sind seit Oktober immer wieder schrittweise eskaliert: mit Blick auf Intensität und geographische Reichweite der Kämpfe sowie die Waffensysteme, die zum Einsatz kamen", sagt etwa Michael Bauer, Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung im Libanon, im Gespräch mit unserer Redaktion. "Diese Eskalationsdynamik hat sich in den letzten zwei Wochen nochmals verschärft. Wenngleich beide Seiten immer wieder erklären, keinen Krieg zu wollen, kann eine solche Dynamik leicht ausser Kontrolle geraten, zumal keine Seite bereit ist einzulenken."

Iran und USA könnten in den Konflikt gezogen werden

Die Lage ist auch deshalb gefährlich, weil sich mit dem Konflikt zwischen Israel und der Hisbollah implizit auch der Iran und die USA als enge Verbündete der beiden Konfliktparteien gegenüberstehen. Die Hisbollah, die unter anderem in Deutschland und den USA als Terrororganisation eingestuft sind, gilt als verlängerter Arm des Mullah-Regimes und wird nach Schätzungen der Vereinigten Staaten jährlich mit hunderten von Millionen Dollar aus Teheran versorgt.

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Beide sehen sich als Widerstandskämpfer gegen Israel und als Schutzmacht der palästinensischen Freiheitsbewegung. Mit Unterstützung der iranischen Revolutionsgarden gelang es der 1982 inmitten des libanesischen Bürgerkrieges gegründeten Hisbollah, zur dominierenden Macht im Libanon aufzusteigen. Seit 2005 sitzt die "Partei Gottes" durchgehend in der Regierung des Libanon.

Der 7. Oktober – der Tag des Angriffs der Hamas auf Israel – hat dem gemeinsamen Interesse Irans und seiner Miliz im Libanon, Israel von der Landkarte zu tilgen, neuen Schub verliehen. "Hisbollah ist Teil eines von Iran unterstützten Netzwerks von Terrororganisationen und Milizen in der Nahostregion, dem auch Hamas angehört", so KAS-Mitarbeiter Bauer. "Die Angriffe auf Israel unterstützen also Hamas, indem israelische Kräfte gebunden werden. Darüber hinaus will Hisbollah damit zeigen, dass sich die Organisation Israel militärisch gewachsen sieht."

Gleichwohl hat der Konflikt auch eine innenpolitische Komponente. Seit Beginn des Krieges greift die Hisbollah den Norden Israels mit Kornett-Raketen und Drohnen an, weshalb rund 60.000 Israelis aus dem Norden des Landes in südlichere Teile evakuiert wurden. Dörfer im Grenzgebiet wie der Ort Metula gleichen Geisterstädten, die Wirtschaft darbt. Auch das ist nach Ansicht vieler Beobachter ein Grund für die zunehmende Verlegung israelischer Truppen an die Grenze zu Libanon: Ministerpräsident Benjamin Netanjahu steht unter grossem innenpolitischem Druck, den Menschen eine baldige Rückkehr zu ermöglichen. Befeuert von der Regierung macht sich damit eine Stimmung breit, dass ein Krieg im Norden unvermeidlich sei.

Wie angespannt die Lage ist, zeigte zuletzt auch ein Drohnenvideo, das die Hisbollah von der nördlichen israelischen Stadt Haifa machte – Israels drittgrösster und bei Touristen beliebten Stadt.

Die Botschaft hinter der Aktion: Im Falle einer Bodenoffensive werde man auch vor israelischen Grossstädten nicht Halt machen, die nicht ohne weiteres evakuiert werden können. Die Wahrscheinlichkeit, dass Israel sich in den kommenden Wochen gezwungen sieht, einen strategischen Schlag gegen die Hisbollah auszuüben, ist damit wahrscheinlich. Daran dürften auch die intensiven Bemühungen der USA und weiterer Verbündeter Israels wenig ändern.

Über den Gesprächspartner

  • Michael Bauer ist seit August 2021 Leiter des Auslandsbüros der Konrad-Adenauer-Stiftung im Libanon. Er lebt in Beirut.

Verwendete Quellen

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