Seit Monaten warnen Israels Verbündete vor einem Militäreinsatz in Rafah. Nun rollen israelische Panzer in Teilen der Stadt und auch an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten.
In einem dramatischen Schritt sind israelische Truppen in der Nacht zum Dienstag in Teile der Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen vorgerückt.
Der einzige Grenzübergang nach Ägypten in Rafah sei nun auf der palästinensischen Seite unter israelischer Kontrolle, teilte ein ranghoher israelischer Militär mit. Auch auf dem sogenannten Philadelphi-Korridor - einem Grenzstreifen zwischen Ägypten und dem Gazastreifen - wurden nach Angaben palästinensischer Augenzeugen israelische Truppen gesichtet.
Es ist das erste Mal seit dem israelischen Abzug aus dem Gazastreifen vor fast zwei Jahrzehnten, dass israelische Streitkräfte wieder in dieses Gebiet vordringen. Israel geht davon aus, dass über die Grenze zu Ägypten Waffen in den Gazastreifen gelangen. Auf Videoaufnahmen der Armee war zu sehen, wie Panzer in den Grenzbereich von Rafah einrollten. Auf einem der Panzer wehte eine grosse israelische Nationalflagge.
Der Einsatz befeuerte Sorgen vor einer folgenschweren Offensive in der mit Flüchtlingen überfüllen Stadt. Die meisten Zivilisten und Vertreter internationaler Hilfsorganisationen hätten nach Evakuierungsaufrufen der Armee am Montag das Gebiet bereits verlassen, teilte der Militär weiter mit.
Verwirrung über Hamas-Erklärung zu Waffenruhe
Kurz vor dem Vorrücken der Truppen hatte die Hamas am Montagabend ihre Zustimmung zu einem Verhandlungsvorschlag über eine Feuerpause im Gaza-Krieg erklärt. Dieser Entwurf entspricht jedoch nicht den israelischen Forderungen. Der israelische Militär sagte, man prüfe den Vorschlag. Israel werde eine Delegation zu weiteren Verhandlungen nach Kairo schicken.
Dort bemühen sich die Unterhändler Ägypten, Katar und die USA weiter um eine Waffenruhe, die Freilassung von Geiseln und Häftlingen sowie die ungehinderte Lieferung humanitärer Hilfsgüter in den Gazastreifen.
Der von der Hamas akzeptierte Entwurf zu einer Feuerpause umfasst nach Angaben der Islamisten drei jeweils 42-tägige Phasen. Die erste Phase sehe unter anderem die Freilassung von 33 Geiseln im Austausch für hunderte palästinensische Häftlinge vor. Nach Angaben der Hamas könnte es sich dabei aber sowohl um lebende als auch um bereits tote Geiseln handeln.
Weiterhin seien eine vorläufige Einstellung der Kämpfe, ein schrittweiser Teilabzug israelischer Truppen aus dem Gazastreifen, Bewegungsfreiheit für unbewaffnete Palästinenser in dem Küstengebiet und die verstärkte Einfuhr von humanitärer Hilfe vorgesehen.
Die zweite Phase laufe auf die Freilassung aller restlichen Geiseln, den Komplettabzug der israelischen Armee aus Gaza und einen dauerhaften Waffenstillstand hinaus. In der dritten Phase soll demnach ein auf drei bis fünf Jahre angelegter Prozess zum Wiederaufbau Gazas beginnen.
Israel stufte den Vorschlag rasch als Täuschungsmanöver der Hamas und Versuch ein, den Einsatz in Rafah zu stoppen. Es handelte sich offenbar um einen von Ägypten und Katar ausgearbeiteten Entwurf, dem Israel bislang nicht zugestimmt hatte. Der jüdische Staat fordert die Freilassung lebender Geiseln in der ersten Phase und hat bisher einem vollständigen Ende des Krieges nicht zugestimmt.
Israel will weiterhin die Hamas zerstören und die Herrschaft der Terrororganisation im Gazastreifen beenden. Rafah gilt als letzte Bastion der Hamas, dort werden die Führungsspitze der Organisation sowie Geiseln vermutet.
Auslöser des Gaza-Kriegs war das beispiellose Massaker mit mehr als 1.200 Toten, das Terroristen der Hamas und anderer Gruppen am 7. Oktober in Israel verübt hatten. Israel reagierte mit einer Offensive im Gazastreifen, bei der nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bisher 34.789 Palästinenser getötet und mehr als 78.000 weitere verletzt wurden.
Ägypten verurteilt Israels Militäraktion in Rafah
Ägypten verurteilte das Vorrücken der israelischen Armee in Rafah am Dienstag scharf. Das Aussenministerium in Kairo sehe darin eine "gefährliche Eskalation, die das Leben von mehr als einer Million Palästinenser" bedrohe. Ägypten rufe die israelische Seite dazu auf, ein Höchstmass an Zurückhaltung zu üben und nicht mit dem Feuer zu spielen.
Israels Nachbarstaat befürchtet unter anderem, es könnte bei einer grossangelegten Offensive in Rafah zu einem Ansturm von Palästinensern über die Grenze kommen.
In Rafah liegt der Grenzübergang vom Gazastreifen nach Ägypten, es ist auch ein wichtiges Tor für humanitäre Hilfslieferungen in den abgeriegelten Küstenstreifen. Sowohl der Grenzverkehr als auch die Einfuhr humanitärer Hilfe wurden vorerst eingestellt.
Der militärische Hamas-Arm griff unterdessen am Dienstag erneut den israelischen Grenzübergang Kerem Schalom mit Raketen und Mörsergranaten an. Erst am Sonntag hatten die Kassam-Brigaden bei einem Raketenangriff auf Kerem Schalom vier israelische Soldaten getötet. Kerem Schalom, wichtigster Grenzübergang für die Lieferung von Hilfsgütern aus Israel in den Gazastreifen, wurde daraufhin ebenfalls vorerst geschlossen.
Israel: "Präziser Anti-Terror-Einsatz in sehr begrenztem Umfang"
Der israelische Militärvertreter sagte am Dienstag zu den aktuellen Entwicklungen, es handele sich um einen "präzisen Anti-Terror-Einsatz in sehr begrenztem Umfang". Spezialtruppen durchsuchten den Rafah-Übergang nach Terroristen. Es gebe Hinweise darauf, dass die Hamas die Gaza-Seite des Übergangs für Terrorzwecke missbraucht habe.
Das Nachrichtenportal "Axios" berichtete unter Berufung auf israelische Regierungsbeamte, der Einsatz von Panzern und Bodeneinheiten östlich von Rafah sei als erste Phase der Offensive zu verstehen.
Die Übernahme des Grenzübergangs Rafah solle nicht nur den Machtverlust der Hamas im Gazastreifen demonstrieren. Anschliessend sollten Palästinenser ohne Verbindung zu den Islamisten an der Verteilung von Hilfsgütern beteiligt werden, die aus Ägypten in das abgeschottete Küstengebiet kommen.
UN und USA warnen vor Bodenoffensive
Die humanitären Organisationen der Vereinten Nationen verurteilten Israels Vorrücken in Rafah. Für die Zivilbevölkerung gebe es keine sicheren Routen Richtung Norden und keine sicheren Zufluchtsorte mit ausreichend Sanitäranlagen und Nahrungsmittelversorgung.
Dies seien Grundvoraussetzungen für Evakuierungen, sagte die Sprecherin des UN-Menschenrechtsbüros, Ravina Shamdasani, am Dienstag in Genf. Wenn diese nicht erfüllt seien, handele es sich um Zwangsumsiedlungen, die Kriegsverbrechen darstellen könnten.
Israel hatte am Montag etwa 100.000 Palästinenser aufgefordert, den östlichen Teil von Rafah aus Sicherheitsgründen zu verlassen. Die betroffenen Bewohner sollten sich in das Gebiet Al-Mawasi nahe der Küste begeben, ihre Versorgung mit Nahrungsmittel, Wasser und Medikamenten könne dort gewährleistet werden.
Die US-Regierung geht nach jetzigem Stand nicht davon aus, dass es sich um den Beginn einer grossangelegten Offensive des israelischen Militärs handelt. Das teilte ein US-Regierungsvertreter am Montagabend (Ortszeit) in Washington mit. An den ernsthaften Bedenken der amerikanischen Seite wegen einer solchen Militäroffensive in dem dicht besiedelten Gebiet habe sich aber nichts geändert.
Nach Aussagen der Vereinten Nationen halten sich gegenwärtig insgesamt 1,2 Millionen Menschen in Rafah auf, wo sonst nur etwa 250.000 Menschen lebten. In den vergangenen Tagen und Wochen haben die US-Regierung und andere Verbündete Israels immer wieder vor den Folgen eines Militäreinsatzes in Rafah gewarnt. © dpa
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