Auffallend viele Frauen fielen dem Angriff der islamistischen Terrororganisation Hamas auf Israel zum Opfer. In den sozialen Medien kursieren Videos von nach Gaza verschleppten Personen. Gewalt gegen Frauen wurde gezielt als Waffe eingesetzt. Das ist in bewaffneten Konflikten jedoch nicht neu, sagt Expertin und Autorin Kristina Lunz.
Für 260 Teilnehmerinnen und Teilnehmer eines Musikfestivals im Süden Israels gibt es kein Danach mehr. Auf dem Wüstengelände, wenige Kilometer vom Gaza-Streifen entfernt, richtete die islamistische Terrororganisation Hamas bei ihrem grossflächigen Angriff auf Israel am Wochenende ein Massaker an. Es kursieren Meldungen über Frauen, die dort neben den Leichen ihrer Freundinnen und Freunde vergewaltigt wurden. Das berichtete das amerikanische Online-Magazin "Tablet", mit Verweis auf einen Augenzeugen. Offiziellen Angaben zufolge sollen insgesamt mindestens 150 Menschen verschleppt worden sein. Darunter auffallend viele Frauen.
So verbreitete sich kurz nach Beginn des Angriffs in sozialen Netzwerken ein Video, offenbar im Gaza-Streifen aufgenommen. Eine Frau liegt halbnackt und regungslos auf einem Truck, ihr Gesicht nach unten gerichtet, die Beine verdreht, mehrere Männer trampeln über ihren Körper, einer bespuckt sie. Ihre Familie identifizierte sie als Festival-Besucherin Shani Louk, eine 22-jährige Deutsch-Israelin.
Hamas-Angriff auf Israel: Vergewaltigungen als Kriegswaffe
Es gibt jetzt viele solcher Videos, anscheinend von der Hamas selbst aufgenommen und auf ihren Kanälen verbreitet. Kriegspropaganda, die das Ausmass an Brutalität erahnen lassen. In einem weiteren sieht man eine Frau, die aus dem Kofferraum eines Autos gezerrt wird. Ihre graue Jogginghose ist am Gesäss blutgetränkt. Die britische BBC hat die Aufnahme verifiziert. Das ist aktuell nicht bei allen Aufnahmen unabhängig möglich – aber immer mehr Angehörige von Entführungsopfern wenden sich an die Öffentlichkeit. Auch ihre Hilferufe zirkulieren in sozialen Netzwerken und werden vielfach geteilt.
Ein Anruf in Berlin bei Kristina Lunz, Mitbegründerin des "Centre for Feminist Foreign Policy". Sie kämpft seit Jahren für eine feministische Aussenpolitik und beschäftigt sich mit patriarchalen Strukturen. "Sexualisierte Gewalt im Kriegen und Konflikten, beispielsweise Vergewaltigung als Kriegswaffe, sehen wir, seitdem es Kriege und Konflikte gibt", sagt sie unserer Redaktion. Die Funktion: zum einen, um Individuen zu erniedrigen. Zum anderen, um ganze Communities zu schädigen, "da die Unversehrtheit des weiblichen Körpers in vielen patriarchalen Ländern und Kulturen einen sehr hohen Stellenwert hat", sagt die Aktivistin und Autorin.
Blick in andere Länder: UN hat Hinweise auf sexualisierte Gewalt in der Ukraine
Auch aus anderen Ländern, unter anderem Afghanistan, Irak, Iran und der Ukraine, gibt es Berichte über diese Form der Kriegswaffe. Das Büro des UN-Hochkommissars für Menschenrechte veröffentlichte erst kürzlich ein Schreiben, in dem von "dokumentierten Missständen weit verbreiteter Folter und willkürlicher Inhaftierung bis hin zu konfliktbedingter sexueller Gewalt" in der Ukraine die Rede ist. Und in den 1990er-Jahren kam es zu Massenvergewaltigungen während des Bosnien-Krieges und des Völkermords in Ruanda.
Genaue Zahlen zu sexualisierter Gewalt in Kriegen und Konflikten zu finden, ist schwierig. Es gibt kaum Erhebungen, ausserdem dürfte die Dunkelziffer enorm hoch sein. Die deutsche Frauenrechts- und Hilfsorganisation Medica Mondiale schreibt auf ihrer Webseite: "Viele Betroffene verschweigen das Erlittene aus Scham, Angst vor Stigmatisierung, Ausgrenzung oder dem schmerzhaften Aufbrechen traumatischer Erinnerungen. Andere starben an den Folgen ihrer Vergewaltigung, wurden ermordet oder nahmen sich später das Leben." Im Falle Bosniens gibt es zumindest Schätzungen. So geht die UN von 20.000 vergewaltigten Frauen aus.
Angesichts dieser Realität unterstreicht Kristina Lunz, wie wichtig es ist, sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe auch als solche zu benennen: "Vergewaltigungen in Kriegen und Konflikten werden noch immer viel zu oft als Kollateralschaden angesehen, die Schwere dieser Taten nicht betont." Eine feministische Aussenpolitik, zu der sich immer mehr Länder bekennen, will das ändern. Sie stellt die Verteidigung von Menschenrechten und marginalisierten Gruppen in den Vordergrund. So schreibt das Auswärtige Amt in ihren Leitlinien: "Frauenrechte sind ein Gradmesser für den Zustand unserer Gesellschaften." Solange Frauen nicht sicher seien, sei niemand sicher.
Diese Erkenntnis setzt sich erst langsam durch. Bis in die 1990er-Jahre wurde sexualisierter Gewalt in Kriegen und Konflikten international kaum Aufmerksamkeit geschenkt. Die Vereinten Nationen erklärten 2008 sexualisierte Gewalt zu einer Kriegstaktik, die Strafverfolgung und Sanktionen erfordert. Nicht zuletzt aufgrund des Muts bosnischer Frauen, die von ihnen erlebten Vergewaltigungen öffentlich anzuprangern und Gerechtigkeit einzufordern. Für sich, für die, die nach ihnen kommen – und für die, die es nicht mehr können.
Über die Gesprächspartnerin:
- Kristina Lunz, geboren 1989, ist Mitbegründerin des "Centre for Feminist Foreign Policy" mit Sitz in London und Berlin und Autorin ("Die Zukunft der Aussenpolitik ist feministisch".) Sie war Stipendiatin an der University of Oxford und studierte dort Global Governance and Diplomacy. Anschliessend arbeitete sie für die Vereinten Nationen und eine NGO in Kolumbien. Für das Auswärtige Amt war sie als Beraterin tätig und erlangte Bekanntheit durch ihre Kampagne "Stop Bild Sexism".
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Kristina Lunz, Centre for Feminist Foreign Policy
- Auswärtiges Amt: Leitlinien für feministische Aussenpolitik: Aussenpolitik für alle
- tabletmag.com: Eyewitness Account of the Rave Massacre
- medicamondiale.org: Sexualisierte Kriegsgewalt
- ohchr.org: UN Commission has found an array of war crimes, violations of human rights and international humanitarian law have been committed in Ukraine
- un.org: Conflict-Related Sexual Violence
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