Das Oberste Gericht in Israel hat einen wichtigen Teil der geplanten Justizreform gekippt. Wie geht es nun weiter? Steht die Reform vor dem Aus?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Michael Freckmann sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Monatelang demonstrierten im vergangenen Jahr Oppositionsparteien und Zivilgesellschaft in Israel. Viele Menschen gingen in Tel Aviv auf die Strasse, um ihren Protest gegen die Justizreform von Ministerpräsident Netanjahu zum Ausdruck zu bringen. Seit dem Terrorangriff der Hamas ist das Thema in den Hintergrund gerückt. Nun hat das Oberste Gericht den Kritikern zum Teil recht gegeben. Was bedeutet das für die Justizreform?

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Ziel der aktuellen Regierung Israels war es, mit dieser Reform den obersten Gerichtshof zu schwächen. Das Parlament, die Knesset, sollte sich über Entscheidungen des Gerichts hinwegsetzen dürfen. Zudem sollte die Regierung eine Mehrheit in der Kommission haben, welche die Richter auswählt. Im Juli vergangenen Jahres hatte die Regierung bereits einen Teil der Justizreform verabschiedet. Demnach sollte es dem Gericht nicht mehr möglich sein, Entscheidungen der Regierung, des Premierministers oder einzelner Minister als "unangemessen" zurückzuweisen.

Oberstes Gericht kippt wichtigen Teil der Justizreform

Diesen Teil des Vorhabens hat das Oberste Gericht jetzt gekippt. Damit hatte das Gericht zum ersten Mal ein Grundgesetz in Israel zurückgewiesen, erklärt Steffen Hagemann, Politikwissenschaftler an der Uni Kaiserslautern-Landau, im Gespräch mit unserer Redaktion. Israel hat keine Verfassung, sondern nur einzelne Grundgesetze und bisher hat kein Gericht ein solches Gesetz aufgehoben.

Das Gericht habe argumentiert, "dass auch solche Grundgesetze den demokratischen und jüdischen Charakter Israels nicht gefährden dürfen", sagt der Experte. Die Gerichtsentscheidung sei ein "grosser Erfolg" für die Protestbewegung. "Allerdings kann das Gericht alleine die Demokratie in Israel nicht schützen". Dafür brauche es weiterhin eine starke und lebendige demokratische Zivilgesellschaft.

Ebenfalls entschied das Oberste Gericht vor einigen Tage, dass ein anderes verabschiedetes Gesetz erst nach der nächsten Parlamentswahl in Kraft treten könne. So hatte Netanjahus Regierung im März 2023 durchgesetzt, dass eine Amtsenthebung eines Premierministers erschwert wird. Das Gericht erklärte, das Gesetz sei auf eine bestimmte Person zugeschnitten und in diesem Zuge habe das Parlament seine Autorität missbraucht, wie die Deutsche Welle berichtet. Netanjahu ist selbst in einem Prozess wegen Betrugs, Bestechung und Untreue angeklagt.

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Netanjahus Likud-Partei kritisierte die Entscheidung des Gerichts. Das Urteil stehe im Widerspruch zum Wunsch der Bevölkerung nach Einheit. So komme die Gerichtsentscheidung zu einer Zeit, "in der israelische Soldaten von der Rechten und der Linken kämpfen und ihr Leben im Krieg gefährden", wie Tagesschau.de berichtete. Justizminister Yariv Levin, wesentlicher Verfechter der Reform, meinte, man wolle sich durch das Urteil nicht "entmutigen lassen". Oppositionsführer Jair Lapid erklärte hingegen, das Gericht habe seinen Auftrag erfüllt, die Bürger Israels zu schützen. Er warnte die Regierung, die Debatte über die Justizreform wieder zu befeuern.

Doch wie geht es nun weiter mit der Reform? Ministerpräsident Netanjahu hat noch keine neuen Aktivitäten erkennen lassen. "Während des Krieges wird man von einem Projekt lassen, das das Land spaltet", sagt Volker Beck, Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft. Es gäbe zwar bei diesem Thema eine "offene Baustelle und eine Berechtigung für die Diskussion". Jedoch glaubt er nicht, dass diese Diskussion in der aktuellen Lage im Land weitergehe. Und auch nach einem Ende des Gaza-Krieges stünden Israel noch immer die Hisbollah und der Libanon mit der Gefahr einer Ausweitung des Konfliktes als Problem gegenüber.

Ausserdem sei nun der bisherige Oppositionspolitiker Benny Gantz, neben Netanjahu und Verteidigungsminister Joaw Galant, Mitglied des Kriegskabinetts. "Solange Benny Gantz Teil des Kriegskabinetts ist, wird es auch keinen weiteren Schritt dazu geben", sagt Beck. "Denn Gantz ist ein entschiedener Gegner dieser Justizreform." Und die Partei von Benny Gantz habe in aktuellen Umfragen die grösste Zustimmung.

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Netanjahu steht unter Druck

Derweil scheint auch Netanjahus Partei an Zuspruch zu verlieren. Schon vor dem Krieg habe die Regierung keine Mehrheit für die Justizreform in der israelischen Gesellschaft gehabt, sagt Politikwissenschaftler Hagemann. So habe es sogar im konservativen Lager Widerstand gegen dieses Reformvorhaben gegeben. Nach dem Terrorangriff der Hamas habe jedoch die amtierende Regierung deutlich an Zustimmung verloren, insbesondere auch Ministerpräsident Netanjahu persönlich.

Dieser werde nicht nur für das Versagen der israelischen Sicherheitskräfte am 7. Oktober verantwortlich gemacht, sagt Hagemann. "Viele Israelis kritisieren zudem, dass Netanjahu selbst in einer dramatischen Krisensituation zunächst an sein persönliches Schicksal und seine politische Zukunft denkt und nicht die Interessen des Landes an die erste Stelle setzt."

Sollte Netanjahu von der politischen Bühne abtreten, so werde sich das politische Feld laut Hagemann neu sortieren und es könnten neue Bündnisse möglich werden. Auch die Protestbewegung gegen Netanjahu würde dabei eine starke politische Kraft sein, auch wenn sie nicht parteipolitisch organisiert sei. "Konflikte über den Charakter des Staates oder die Regelung des israelisch-palästinensischen Konflikts", sagt Politikwissenschaftler Hagemann, "bleiben aber bestehen."

Über die Gesprächspartner

  • Dr. Steffen Hagemann ist Politikwissenschaftler an der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau. Von Dezember 2018 bis September 2022 leitete er das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung in Tel Aviv, Israel.
  • Volker Beck ist Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Berlin.

Verwendete Quellen

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