Nach mehr als 15 Monaten gibt es Hoffnung auf Frieden im Nahen Osten. Am Sonntag soll eine Waffenruhe in Kraft treten. Nur das israelische Kriegskabinett muss noch zustimmen. Doch kurz vor dessen Zusammentreten wird von einer Krise "in letzter Minute" gesprochen.

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Seit mehr als einem Jahr dauert der Krieg im Gazastreifen an, Zehntausende Menschen wurden getötet, das Küstengebiet liegt weitgehend in Trümmern. Der Konflikt hatte und hat massive Auswirkungen in der Nahost-Region. Nun gibt es nach monatelangen Bemühungen der USA, Ägyptens und Katars um eine Waffenruhe zwischen Israel und der palästinensischen Terrororganisation Hamas den lange erhofften Durchbruch. Wie geht es weiter?

Was beinhaltet der ausgehandelte Deal?

Bei dem ausgehandelten Deal geht es laut US-Präsident Joe Biden um einen Drei-Stufen-Plan. Das berichtet der "Spiegel". Phase eins soll sechs Wochen dauern. Vorgesehen ist: eine vollständige Waffenruhe und einen Rückzug der israelischen Streitkräfte aus dicht besiedelten Gebieten. 33 Geiseln sollen zudem aus der Gewalt der Hamas entlassen werden. Im Gegenzug sollen hunderte Palästinenser aus israelischen Gefängnissen freikommen.

Ungewiss ist weiterhin, wie viele der Geiseln, die während des beispiellosen Hamas-Massakers am 7. Oktober 2023 in den Gazastreifen verschleppt worden waren, noch am Leben sind. Israelische Krankenhäuser haben sich auf die Aufnahme zutiefst traumatisierter und teilweise auch kranker und verletzter Geiseln vorbereitet. Am 16. Tag der Waffenruhe sollen laut Plan die Verhandlungen über die zweite Phase – und damit die Freilassung der restlichen Entführten – beginnen.

Das israelische Militär soll sich im Gegenzug aus dem Gazastreifen gänzlich zurückziehen. Phase drei würde dann den Wiederaufbau Gazas einläuten. Dazu sollten dann die letzten Überreste getöteter israelischer Geiseln an die Familien zurückgegeben werden. Der Deal kommt aber erst zustande, wenn das israelische Sicherheitskabinett seine Zustimmung erteilt. Kurz bevor das Kabinett hätte zusammentreten sollen, wurde Kritik laut: Israel wirft der Hamas vor, eine Krise "in letzter Minute" ausgelöst zu haben.

Was wirft Israel der Hamas im Zusammenhang mit dem Deal vor?

Die Hamas im Gazastreifen verweigert nach Darstellung von Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu ihre Zustimmung zu Teilen der Vereinbarung über eine Waffenruhe und die Freilassung von Geiseln. Die Islamistenorganisation habe das Ziel, "in letzter Minute Zugeständnisse zu erpressen", liess er über sein Büro am Morgen mitteilen.

Das israelische Kabinett werde daher erst dann zur Billigung des Deals zusammentreten, "wenn die Vermittler Israel mitteilen, dass die Hamas alle Elemente des Abkommens akzeptiert hat". Die Sitzung war für 10:00 Uhr (MEZ) geplant.

Die Hamas habe eine Krise bei den Verhandlungen verursacht, hiess es von Netanjahus Büro weiter. Dem widersprachen die Islamisten: Issat al-Rischk, Mitglied des Hamas-Politbüros, erklärte via Telegram, die Hamas stehe zur von den Vermittlern angekündigten Waffenruhevereinbarung.

In den vergangenen Monaten war auch Netanjahu während der indirekten Verhandlungen vorgeworfen worden, er habe immer wieder Chancen für ein Abkommen über eine Waffenruhe in letzter Minute platzen lassen.

Warum steht Netanjahu unter Druck?

Ein Grund für die Verschiebung soll dem israelischen Sender Kan zufolge auch sein, dass der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich Netanjahu zunächst nicht Bescheid gegeben habe, ob seine Partei aus Protest gegen das geplante Abkommen die Regierung verlassen wolle. Er pocht demnach auf eine Garantie, dass die Kämpfe im Gazastreifen nach der ersten Phase weitergehen werden.

Beobachter sehen Netanjahu unter Druck. Mehrere rechtsextreme Politiker in Israel sind gegen die Vereinbarung und drohen, die Koalition zu verlassen. Es wird davon ausgegangen, dass der Deal trotz des Widerstands vom Sicherheitskabinett und anschliessend vom gesamten Kabinett gebilligt wird.

Wie stabil ist das Abkommen?

Die Vereinbarung steht auf wackeligen Füssen schon allein, weil sich Israels Regierung und die Hamas gegenseitig geschworen haben, einander zu vernichten. Angesichts des tiefen Misstrauens ist offen, ob sich beide Seiten über Wochen an die vereinbarten Schritte halten werden und ob etwa bestimmte Passagen jeweils anders ausgelegt werden. Auch der Ausgang der Verhandlungen in den nächsten Phasen des Abkommens über ein dauerhaftes Ende des Krieges und einen Abzug Israels aus dem Gazastreifen ist ungewiss.

Beobachter warnen deswegen, dass nach der ersten Phase der Waffenruhe die Kämpfe wieder beginnen könnten zumal es auf beiden Seiten Befürworter einer Fortsetzung des Krieges gibt. Andererseits gibt es in der palästinensischen Zivilbevölkerung in Gaza wie auch in Israel eine grosse Sehnsucht danach, dass die Waffen nach 15 Monaten Krieg schweigen.

Wie ist die aktuelle Lage in Gaza?

Israels Armee greift derweil palästinensischen Angaben zufolge weiter massiv Ziele im Gazastreifen an. Seit der Verkündung der Einigung auf das Abkommen durch den Vermittlerstaat Katar am Mittwochabend kamen einem Sprecher des von der Hamas kontrollierten Zivilschutzes zufolge mehr als 70 Palästinenser bei israelischen Angriffen in dem Küstengebiet ums Leben. Darunter sollen auch Minderjährige und Frauen sein. Die meisten Toten habe es in der Stadt Gaza gegeben. Die Angaben liessen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.

Israels Armee betont stets, im Kampf gegen die islamistische Terrororganisation Hamas Massnahmen zu ergreifen, um Zivilisten zu schonen.

Was bedeutet der Deal für die Menschen in Gaza?

Die vereinbarte Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas biete "dringend benötigte Hoffnung für Millionen Menschen, deren Leben durch diesen Konflikt zerstört wurden", sagte UN-Nothilfekoordinator Tom Fletcher. Der wichtige Grenzübergang Rafah zwischen Ägypten und Gaza soll bereits heute wieder geöffnet werden. Entsprechende Anweisungen seien eingegangen, bestätigte ein Sicherheitsbeamter der Deutschen Presse-Agentur. Rund 600 Lastwagen mit Hilfslieferungen wurden demnach für die Einfuhr vorbereitet.

Die ohnehin schon miserable humanitäre Lage in dem abgeriegelten Küstenstreifen am Mittelmeer hat sich durch die monatelangen Bombardierungen nochmals dramatisch verschärft. Mittlerweile leiden mehr als 90 Prozent der palästinensischen Bevölkerung nach UN-Angaben starken Hunger. Es fehle an Wasser, Notunterkünften und Arzneimitteln.(dpa/bearbeitet durch ras)

Verwendete Quellen

Tausende demonstrieren in Israel für Geisel-Deal und Kriegsende

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Auch 15 Monate nach ihrer Entführung leiden die Geiseln der Hamas weiter unter den grauenhaften Umständen ihrer Gefangenschaft. Lautstarke Proteste erhöhen den Druck auf Regierungschef Netanjahu.
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