Der Angriff der radikal-islamischen Hamas auf Israel dominiert derzeit die Schlagzeilen, während der russische Angriffskrieg auf die Ukraine weiterläuft. Welche Rolle Russland im Krieg in Nahost spielen könnte, erklärt Konfliktforscher Jonas J. Driedger.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Stefan Matern sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Aufgrund der medialen Dominanz des Angriffs der Terrororganisation Hamas auf Israel und dessen Vergeltungsschlägen gerät fast schon in Vergessenheit, worauf der Spiegel in seiner Lage am Morgen verweist: "Der Ukrainekrieg ist nicht vorbei." Demnach steht die Befürchtung im Raum, dass Waffenlieferungen an die Ukraine angesichts der Eskalation in Nahost geringer ausfielen als bisher, da eine Aufrüstung Israels durch die USA anstehe. Auch Russland habe seine Rüstungsproduktion stark hochgefahren.

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Die Fachzeitschrift Foreign Policy zitiert zu möglichen Auswirkungen den ehemaligen lettischen Verteidigungsminister Artis Pabriks: "Die Russen hätten ein Interesse daran, den Westen zu fragmentieren und zusätzliche Probleme zu schaffen. Es muss alles gleichzeitig gemacht werden. Die Russen hoffen, dass jemand sagen wird, das sei zu schwierig." Europäische Beamte und Experten befürchten demnach eine strategische Ausnutzung des Chaos um den Hamas-Angriff auf Israel und eine daraus resultierende engere Beziehung des Kreml zum Iran, der mit der Hamas verbunden ist.

Verbindungen zwischen Russland und den Palästinensern reichen wiederum bis in den Kalten Krieg zurück. Doch Russland ist eben nicht die Sowjetunion, wie der Konfliktforscher und Sicherheitsexperte Jonas Driedger im Gespräch mit unserer Redaktion erklärt: "Im Kalten Krieg haben die Sowjets die PLO (Palästinensische Befreiungsorganisation; Anm d. Red.) unterstützt und im Sinne der Stellvertreterlogik deren ideologische Ausrichtung als anti-imperialistischen Widerstand gegen das westliche Lager um Israel und die USA zumindest instrumentell genutzt."

Konfliktforscher erklärt: Diese Verbindungen hat Russland mit der Hamas

Der sowjetische Sozialismus zur Zeit des Kalten Kriegs hatte Anknüpfungspunkte in der sozialistischen Ausrichtung der PLO gefunden. So ist beispielsweise auch die heute stärkste Fraktion innerhalb der PLO, die Fatah, Vollmitglied der Sozialistischen Internationalen. Diese Traditionslinien könnten heute wiederbelebt werden, so Driedger: "Russland hat sich oft an die Seite der Palästinenser oder der Organisationen gestellt, die für sich in Anspruch nehmen, für die Palästinenser zu sprechen. Anti-westliche und anti-amerikanische Sentiments sind dabei zentral."

So war der ehemalige Ministerpräsident Russlands, Jewgeni Primakow, mit Jassir Arafat, dem ersten Präsidenten der palästinensischen Autonomiegebiete, befreundet. Die Beziehungen zu Israel verbesserten sich indes erst langsam mit den Liberalisierungen der Perestrojka.

In der Gemengelage multipler Verbindungen Russlands im Nahen Osten muss jedoch genau differenziert werden, betont Konfliktforscher Driedger: "Mit der Hamas hat Russland direkte Verbindungen. Im März wurde eine Delegation empfangen und am Freitag (13.10.2023) gab es Gerüchte um eine mögliche UN-Resolution, die Russland einbringen könnte. In der geht es um Palästina und Israel, und die Hamas wird nicht einmal genannt." Beim Treffen im März hatte ein Hamas-Vertreter laut Nachrichtensender ntv Israel für die Instabilität der Region verantwortlich gemacht. Der Kreml hat auch die Hamas nie offiziell als Terrororganisation eingestuft.

Beziehung zwischen Israel und Russland: Netanjahu bezeichnete Putin als Freund

"Radikal-islamische Terrororganisationen sind für Russland ein komplexes Thema. Man darf nicht vergessen, dass Russland zwei Kriege in Tschetschenien geführt hat. Auf Seite der Tschetschenen kämpften mitunter radikale Islamisten, und das Regime Kadyrow versteht sich als islamisch. Gleichzeitig befindet sich Russland in Syrien im Kampf mit dem Islamischen Staat. Der Kreml muss ein interessantes Balanceverhältnis hinbekommen," erklärt der Sicherheitsexperte. Putin habe Russland auch schon aus taktischem Kalkül im Diskurs mit den Golfstaaten als muslimische Zivilisation bezeichnet.

Doch auch zwischen Israel und Palästina muss Russland eine schwierige Balance halten, die der russische Präsidentensprecher Dmitri Peskow zuletzt illustrierte: "Natürlich haben wir langjährige historische Beziehungen zu den Palästinensern und bleiben im Kontakt – auch auf hoher Ebene. Gleichzeitig pflegen wir unsere Beziehungen zum Staat Israel, mit dem wir viele Gemeinsamkeiten haben", so Peskow laut tagesschau.de. Er verwies zudem auf die vielen "Landsleute" in Israel. Mit diesem Begriff meine er sowohl ethnische Russen als auch russischsprachige Menschen, merkt Driedger dazu an.

"Nach dem Kalten Krieg sind viele russischsprachige Menschen aus der Post-Sowjetunion nach Israel gekommen", beschreibt Driedger den Zusammenhang. Laut tagesschau.de sind unter den etwa neun Millionen Einwohnern Israels zwei Millionen russischsprachige Menschen. Auch russische Staatsbürger sind demnach bei dem Angriff der Hamas gestorben. "Es gibt noch weitere Interessenkonvergenzen. Russland und Israel betreiben Handel miteinander, und die Überwachung des Luftraums über Syrien wird ebenfalls zwischen den beiden Staaten koordiniert. Auch Benjamin Netanjahu hat Putin schon als seinen Freund bezeichnet", so der Sicherheitsexperte.

Russland und das "Scheitern des Westens": Kreml versucht, Lage zu instrumentalisieren

Israel ist seinerseits wiederum sehr vorsichtig in seiner Position zum russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kurz nach dem russischen Angriff im Februar 2022 war der damalige Premierminister Naftali Bennett noch zum Vermittlungsversuch nach Moskau gereist und hatte später behauptet, die USA und Grossbritannien hätten einen Waffenstillstand verhindert. Ein Narrativ, das Russland entgegenkam.

"Nach dem Angriff auf die Ukraine mit der Krim-Annexion 2014 und dem daran anschliessenden Krieg im Donbass hat Israel bei einer entsprechenden UN-Resolution (Resolution 68/262; Anm. d. Red.) zur Verurteilung der russischen Aktion durch Abwesenheit seine Aussage getroffen. Nach dem Einmarsch im Februar 2022 hat man sich dagegen einer entsprechenden Resolution (Resolution ES-11/1; Anm. d. Red.) angeschlossen. Hier sieht man Israel einen Balanceakt vollführen. Denn man ist sich dort wohl bewusst, dass die eigene Position im Westjordanland mit der Militärbesatzung nicht mit dem Völkerrecht kompatibel ist", schätzt der Experte die Situation ein.

Unabhängig davon profitiert Russland vom Angriff der Hamas auf Israel, weil sich die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf Israel richtet. In Russland hat man auch schon einen Schuldigen für den Terror der Hamas gefunden: den Westen. Duma-Chef Wjatscheslaw Wolodin behauptete laut tagesschau.de: "Die USA und Brüssel haben die Ukraine mit Waffen überflutet. Und die ukrainische Führung hat die an die Länder im Nahen Osten weiterverkauft." Präsidentensprecher Peskow hofft gar, dass die Gelder und Waffen der USA anstatt an die Ukraine nun an Israel gesendet werden. Gleichermassen versucht sich Russland, entsprechend dem Narrativ vom angeblichen Scheitern der Nahost-Politik des Westens, als Vermittler ins Spiel zu bringen.

Sicherheitsexperte Driedger: Zerreissprobe für das russische Regime

"Aus den russischen Statements geht keine einseitige Anklage gegen die Hamas hervor", sagt auch Sicherheitsexperte Driedger. "Es wird vor allem die Politik des Westens für die Probleme im Nahen Osten verantwortlich gemacht. Da punkten sie auch bei Akteuren vor Ort." Man müsse dabei verstehen: Der Angriff auf die Ukraine sei eine Zerreissprobe für das russische Regime. "Russland weiss, dass der transatlantische Westen in allen Belangen – wirtschaftlich, militärisch, soft power – haushoch überlegen ist. Wenn es aber andernorts Probleme gibt, die man dem Westen vorwerfen kann, dann ist das eine strategische Karte, die man gerne ausspielt."

Ausserdem verstehe sich Russland nach wie vor als ordnende Grossmacht. In diesem Selbstverständnis sei die Befriedung verschiedener Weltregionen selbstverständlicher Teil der strategischen Vorgehensweise: "Das entspricht dem russischen Bedürfnis nach Augenhöhe mit anderen Grossmächten", so der Experte.

So wäre ein diplomatischer Erfolg als Vermittler im Nahen Osten auch eine Art Rückkehr auf die Weltbühne. Auch Wladimir Putin erklärte die Eskalation in Israel als Scheitern des Westens. Bei seinem Treffen mit dem irakischen Regierungschef Mohammed Schia al-Sudani in Moskau am Dienstag (10.10.2023) sagte der russische Präsident: "Dies ist ein klares Beispiel für das Scheitern der Politik der USA im Nahen Osten".

Förderung der Hamas durch Russland? "Das wäre taktisch sehr unklug"

Die multiplen Interessen der beteiligten Staaten und die unübersichtliche Gemengelage machen einfache Schlussfolgerungen über die russischen Absichten und strategische Handlungen im Krieg in Israel ohnehin unmöglich. So ist die Unterstützung der Hamas durch Iran zwar bekannt, doch nach US-Geheimdienstinformationen, die CNN zitiert, war sogar der Iran vom Hamas-Angriff auf Israel überrascht. Und für eine direkte Verbindung zwischen Hamas und Russland gibt es ohnehin keine robusten Belege. "Eine direkte Unterstützung wäre taktisch auch sehr unklug", meint Driedger. "Da gäbe es für Russland wenig zu gewinnen, aber viel zu verlieren."

Man müsse bei der Bewertung der Lage auch den Fehler vermeiden, dem Iran seine eigene Handlungsfähigkeit abzusprechen: "Der Iran verfolgt eine sehr eigenständige Politik. Er hat zwar Interessenkonvergenzen mit Russland, aber das heisst nicht, dass Russland über den Iran den Krieg in Israel beeinflusst. Die Rolle des Iran in Bezug auf die Hamas ist sehr deutlich, und sie ist von Eigenständigkeit geprägt", erklärt der Experte.

Der US-Sicherheitsexperte Jens Kallberg hatte sich bei ntv dagegen recht eindeutig geäussert: "Das Putin-Regime brauchte eine Eskalation, ohne in einen direkten Konflikt mit der NATO zu treten." Die Welt sei wieder im Kalten Krieg angekommen – wie die Sowjetunion früher finanziere Russland heute Terror. Dieser eindeutigen Parallelisierung widerspricht Driedger: "Russland ist nicht die Sowjetunion."

Rückkehr des Kalten Krieges? Militärische und ideologische Differenzen

So banal das klinge, so deutlich seien die aus dieser Feststellung resultierenden Unterschiede. "Die Analogie zum Kalten Krieg verdeckt mehr, als sie an Erkenntnissen liefert. Blickt man auf die Landkarte, gibt es zwar eine ähnliche Konstellation der Unterstützung der Konfliktparteien und ein paar weitere Parallelen, doch das sind alles keine Alleinstellungsmerkmale des Kalten Krieges", argumentiert der Konfliktforscher.

Vielmehr seien die Differenzen zum Kalten Krieg bemerkenswert: "Allein geopolitisch muss man feststellen, dass die russische Armee nichts mit der Roten Armee zu tun hat, die die mächtigste Landstreitkraft der Welt war. Auch Putins Ideologie ist nicht mit dem Sozialismus der Sowjetunion zu vergleichen." Interessant sei darüber hinaus Russlands variable Position zum Völkerrecht: "Russland verstösst natürlich eklatant gegen das Völkerrecht. Es gibt aber gleichzeitig ein Insistieren darauf, wenn es dazu dient, westliche Politik zu diskreditieren." Das könne man im Nahen Osten beobachten.

"Russland hat offen darauf hingewiesen, dass man selbst aufgrund der legitimen Einladung des syrischen Regimes in Syrien tätig sei. Mit der entsprechenden Implikation: Alle anderen halten sich völkerrechtswidrig in Syrien auf. Das ist heuchlerisch und eine Instrumentalisierung des Völkerrechts," erklärt Driedger. Gleichermassen dürfe man nicht vergessen, dass Russland in dem Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern immer wieder zur Errichtung eines palästinensischen Staates – ohne dabei die Hamas zu nennen – gemäss dem Völkerrecht aufgerufen habe. "Um Russland zu begreifen und auch sein Verhalten gegenüber Israel zu verstehen, darf man beides nicht übersehen."

Über den Experten: Dr. Jonas J. Driedger ist Vertretungsprofessor für Internationale Sicherheitspolitik an der Goethe-Universität Frankfurt sowie Forscher am Peace Research Institute Frankfurt (PRIF, vormalige HSFK). Davor arbeitete und forschte er in Kiew, Moskau, Florenz und Washington D.C. Seine Spezialgebiete umfassen Militär- und Sicherheitspolitik sowie zwischenstaatliche Kriege, insbesondere im osteuropäischen Raum. Seine jüngste Studie (hier frei verfügbar) untersucht, warum Expert:innen den russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 grösstenteils nicht kommen sahen und welche Lehren daraus zu ziehen sind.

Verwendete Quellen:

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