Die Türkei vermittelt im Nahostkrieg. Geiseln sollen auf diplomatischen Druck von Ankara hin bereits freigekommen sein. Doch die Vermittler-Rolle nimmt Erdogan nicht ohne Hintergedanken ein, ist sich Türkei-Experte Rasim Marz sicher. Er zeigt auf, welche Ziele der türkische Präsident verfolgt und welche Forderungen er im Westen durchsetzen will.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Marie Illner sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Der türkische Präsident Erdogan hat sich als Vermittler zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas ins Spiel gebracht. Laut Angaben aus Regierungskreisen soll Ankara bereits in Verhandlungen mit der Hamas über die Freilassung von Geiseln aus Israel sein – und mit einer freigelassenen Mutter und zwei Kindern auch bereits einen Erfolg erzielt haben.

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Die palästinensische Terrororganisation hatte Israel am vergangenen Samstag, 7. Oktober, angegriffen. Über 1.300 Menschen verloren ihr Leben, mehr als 200 wurden von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt. Über 2.400 Todesopfer auf palästinensischer Seite soll es mittlerweile geben.

Zurückhaltung in der Türkei

Während die deutsche Regierung sich geschlossen an die Seite Israels stellte und den Angriff der Hamas als Terrorakt bezeichnete, war das Bild in Ankara weniger eindeutig. In vielen Städten kam es zu Kundgebungen, bei denen Demonstrierende ihre Unterstützung für die Palästinenser ausdrückten. Darunter Prominente wie Präsidentensohn Bilal Erdogan, der ehemalige Innenminister Süleyman Soylu und der amtierende Parlamentspräsident Mustafa Sentop.

Erdogan gab sich betont besonnen. Zwar rief er beide Seiten zur Deeskalation auf und mahnte auch die Palästinenser, unschuldige Zivilisten zu schonen. Eine Verurteilung der Hamas als Terrororganisation blieb aber aus. Die palästinensische Frage sei "die Wurzel aller Probleme in unserer Region", sagte Erdogan und sprach von Solidarität mit den „palästinensischen Schwestern und Brüdern“. Es müsse alles dafür getan werden, weitere Spannungen zu vermeiden.

Geprägt von Höhen und Tiefen

Türkei-Experte Rasim Marz weiss, warum Erdogan beide Seiten nicht verprellen will. Die Beziehungen zwischen der Türkei und Israel seien von Höhe- und Tiefpunkten geprägt. Während des Dritten Reichs war die Türkei Zufluchtsort tausender europäischer Juden, das Land erkannte Israel als einer der ersten westlichen Staaten bereits 1949 an. Noch vor der amerikanischen wurde 1950 eine türkische Botschaft in Jerusalem eingesetzt.

"In den vergangenen 12 Jahren herrschte jedoch eine Eiszeit vor", sagt Marz. Auslöser sei ein tödlicher Militäreinsatz im Jahr 2010 gegen eine Gaza-Hilfsflotte mit türkischen Staatsangehörigen gewesen. "Ankara hat daraufhin die Beziehungen zu Israel abgebrochen und sich als Vorreiter der palästinensischen Sache angedient", erinnert er.

Seit Januar dieses Jahres habe die Türkei aber darauf abgezielt, ihre Beziehungen zu Israel wieder zu verbessern. So seien beispielsweise die israelische Botschafterin Irit Lillian akkreditiert und diplomatische Beziehungen wieder aufgenommen worden.

Erdogan will palästinensischen Staat

"Gleichzeitig hat die Türkei aber ein grosses Interesse an dem Gebiet – ihr Vorgänger, das Osmanische Reich, herrschte 500 Jahre in der Region", sagt der Türkei-Experte. Über die palästinensischen Organisationen wolle die Türkei Einfluss in der Region erlangen. Angesichts des Nahostkonflikts wolle Ankara sich als geopolitischer Akteur fest verankern, so wie in den Krisengebieten Syrien, Libyen, Ukraine und in Berg-Karabach.

Die Beziehungen zur Hamas sind gut. Die Türkei toleriert ein Verbindungsbüro der Hamas in Ankara und Istanbul, trotz mehrfacher Proteste Israels. Vermutet werden koordinierte Operationen oder Spionage für den Iran. Der Wunsch Erdogans: Ein unabhängiger und geographisch zusammenhängender palästinensischer Staat mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt und ein Israel in den Grenzen von vor dem Sechstagekrieg 1967.

Darum bietet sich Erdogan als Vermittler an

Dass sich Erdogan nun als Vermittler zwischen den Kriegsparteien anbietet, hat aus Sicht von Marz mehrere Gründe. Die Türkei nutze die Beziehungen, die sie über Jahre zur Hamas aufgebaut hat, um auf beiden Seiten die aktuellen Geschehnisse instrumentalisieren und sie für türkische Interessen einsetzen zu können.

"Die türkische Diplomatie läuft derzeit auf Hochtouren, um die Geiseln befreien zu können. Man nimmt gerade Einfluss auf die Hamas, um auf der anderen Seite die Türkei als ehrlichen Makler und als Vermittler der Stunde darzustellen", sagt Marz.

Die Türkei habe die Veränderungen auf der politischen Bühne des Nahen Ostens genau beobachtet. "Unter der Trump-Administration kam es zu einer Annäherung zwischen Saudi-Arabien, Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Israel", erinnert Marz. Die Verbesserung der arabisch-israelischen Beziehungen habe zu einem Umdenken in der türkischen Aussenpolitik geführt, da man eine Einkreisung im Mittelmeerraum befürchtete.

Ankara will Macht demonstrieren

"Israel hat mit Ägypten, Zypern und Griechenland in den letzten Jahren sehr gute bilaterale Beziehungen aufbauen können. Die Türkei sah sich dadurch im Nachteil, gerade mit Blick auf ihre Stellung im östlichen Mittelmeerraum", analysiert Marz. Es gehe um Gasvorkommen und um die maritime Herrschaft im Mittelmeer. "Die Türkei sah sich in Zugzwang, aus ihrer Position auszubrechen und wieder Beziehungen zu den genannten Staaten aufzubauen. Israel war ein wichtiger Start", meint der Experte.

Mit der Befreiung israelischer Geiseln wolle Erdogan nun Macht demonstrieren und die Türkei als geopolitische Grossmacht darstellen, die sie immer habe sein wollen. "Präsident Erdogan versucht, den Konflikt für seine Zwecke zu instrumentalisieren, damit er auch seine eigenen Forderungen gegenüber dem Westen durchsetzen kann", ist sich der Türkei-Experte sicher.

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Diese Themen könnte Erdogan neu vorbringen

So sei es in den letzten Monaten beispielsweise zu Verwerfungen hinsichtlich des EU-Beitrittsprozesses gekommen. "Eine der realistischeren Forderungen von Präsident Erdogan, die schon lange auf dem Verhandlungstisch liegt, ist die Erweiterung der Zollunion und die Erleichterung der Visa-Freigabe", sagt Marz.

Diese Punkte würden schon lange im Raum stehen, seien aber angesichts des neusten EU-Berichts über die Entwicklungen in der Türkei mit grosser Mehrheit im Parlament abgelehnt worden – trotz der Zustimmung der Türkei zum Nato-Beitritt Schwedens. "Dadurch, dass die Türkei ihr Veto zurückgezogen hatte, erhoffte man sich eigentlich, den Weg freimachen zu können", analysiert Marz. Das habe Ankara aber nicht erreicht.

"Die Türkei wird die Ereignisse in Israel dafür nutzen, diese Themen neu vorzubringen", sagt er. „Wenn Präsident Erdogan die Befreiung der Geiseln erreicht oder sogar einen Waffenstillstand aushandeln kann, dann versetzt es ihn und damit die Türkei in die Position eines Global Players.“ Der Westen muss dann wieder auf die Türkei zugehen, während Erdogans Popularität in der islamischen Welt weiter steigen wird.

Die EU stehe dem furchtbaren Angriff der Hamas auf Israel politisch ohnmächtig gegenüber. "Trotz ihrer Solidaritätsbekundungen mit Israel hat die EU keinen Einfluss auf die palästinensischen Organisationen. Die Türkei kann nun durch ihre jahrelangen Verbindungen politisches Kapital herausschlagen", sagt Marz.

Über den Experten: Rasim Marz ist ein deutsch-türkischer Historiker und Publizist für die Geschichte des Osmanischen Reiches und der modernen Türkei. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die europäische und osmanische Diplomatie des 19. Jahrhunderts sowie die Subversion des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert.
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