In Israel werden immer mehr Stimmen laut, die das politische Ende des Politikers fordern. Netanjahu hatte eine umstrittene Justizreform vorangetrieben, die zu landesweiten Protesten geführt hatte, und das Militär zum Schutz der Siedler im Westjordanland abgeordnet.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Weyell sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Yuval Noah Harari ist ein sehr bedächtiger Mann. Nichts an ihm wirkt fordernd oder gar aggressiv. Als einer der wichtigsten Intellektuellen Israels und weltweit hat das Wort des Historikers Gewicht. Er äussert sich gegenüber internationalen Medien über den aktuellen Krieg in Gaza und fordert humanitäre Unterstützung – notfalls auch durch Israel – für die betroffenen Zivilisten, die dem ständigen Bombardement schutzlos ausgeliefert sind.

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Nun fordert der Historiker Konsequenzen. Gegenüber "Zeit Online" erklärte Harari in einem Video-Interview: "Ich denke, Netanjahu sollte zurücktreten und Verantwortung für die Katastrophe übernehmen." Mit der Katastrophe meint Harari den Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober, bei dem nach aktuellen Zählungen um die 1.400 Menschen starben und ungefähr 250 Menschen entführt worden.

Wachsende Kritik am Ministerpräsidenten

Mit dieser Forderung ist der Intellektuelle nicht allein. Der israelisch-amerikanische Publizist Gershom Gorenberg prangerte in einem Aufsatz für die "New York Times" die israelische Regierung an und erklärte, diese sei mehr damit beschäftigt gewesen, die geplante Justizreform voranzutreiben und Siedler im Westjordanland zu beschützen, als sich um die Sicherheit des Landes zu kümmern. Sein Fazit: Netanjahu ist direkt für die Katastrophe verantwortlich und sollte abtreten.

Die Kritik am Staatschef zeigt sich auch in Zahlen. Wie die "Times of Israel" berichtet, erklärten in einer Umfrage vom 13. Oktober lediglich 29 Prozent der Befragten, Benjamin Netanjahu sei der Ministerpräsident ihrer Wahl. 48 Prozent wollten dagegen lieber den ehemaligen Verteidigungsminister Benny Gantz als Ministerpräsidenten. Gantz gehört seit dem Angriff der Hamas dem dreiköpfigen Kriegskabinett von Netanjahu an.

Auch auf Seiten der Verbündeten Israels wird über die Zukunft von Benjamin Netanjahu spekuliert. Das US-Magazin "Politico" berichtete jüngst, dass die US-Regierung intern davon ausgehe, dass Netanjahu nicht mehr lange an der Macht sein werde. Angeblich werde bereits überlegt, wer mögliche Nachfolger im Ministerpräsidentenamt sein könnten. Die US-Diplomatie richte ihren Fokus demnach auf Alternativen und führe Gespräche über mögliche Waffenruhen mit Benny Gantz und Netanjahus Vorgängern Yair Lapid und Naftali Bennett.

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Welche Verantwortung trägt Netanjahu?

Laut Eckart Wörtz, Direktor des Giga-Instituts für Nahost-Studien in Hamburg, trägt Netanjahu grossen Anteil an dem Versagen der Geheimdienste und des Militärs am 7. Oktober. Gegenüber unserer Redaktion erklärt er: "Die Grenze zum Gaza-Streifen war unterbesetzt, während militärische Kapazitäten auf der Westbank gebunden waren, weil dort aufgrund der aggressiven Siedlungspolitik der rechts-populistischen Netanjahu-Regierung die Gewalt eskalierte."

Gleichzeitig habe die Regierung Netanjahu die israelische Gesellschaft mit seiner Justizreform, die die Gewaltenteilung untergraben würde, gespalten und viele im Militär- und Sicherheitsapparate verunsichert. Auch innerhalb der israelischen Armee hatte es starken Protest gegen Netanjahus Vorhaben gegeben.

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Wie sehr ist Netanjahus politische Zukunft gefährdet?

Netanjahu ist der am längsten amtierende Ministerpräsident in Israel. Er war zuerst 1996 bis 1999 Regierungschef, anschliessend von 2009 bis März 2021. Seit November 2022 ist er erneut im Amt. Parallel hierzu laufen seit mehreren Jahren Strafverfahren wegen Korruption und Vorteilsnahme im Amt. Die geplante Justizreform sollte auch dazu dienen, dem Ministerpräsidenten Immunität zu verschaffen. Netanjahu politisches Ende wurde schon mehrfach prophezeit, bisher hat er es aber immer wieder geschafft, seine Macht zu sichern.

Eckart Wörtz ist skeptisch, dass das dieses Mal wieder der Fall sein wird: "Ich glaube nicht, dass er dies politisch überleben wird. Er wird abgewählt werden, wie Golda Meir nach dem Jom-Kippur-Krieg." Am 6. Oktober 1973, fast genau 50 Jahre vor dem jüngsten Massaker, wurde Israel von einem Angriff aus Ägypten und Syrien überrascht.

Die israelische Armee konnte sich anschliessend zwar behaupten, doch für das Versagen der Geheimdienste musste die damalige Ministerpräsidentin Golda Meir letztendlich die politische Verantwortung tragen. 1974 trat sie schliesslich zurück, nachdem ihr Parteibündnis stark an Zustimmung verloren hatte.

Über den Gesprächspartner:

  • Eckart Wörtz ist Historiker, Professor für Zeitgeschichte und Politik des Nahen Ostens an der Universität Hamburg und Direktor des Giga-Instituts für Nahost-Studien.

Verwendete Quellen:

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