33 israelische Geiseln sollen im Austausch für hunderte palästinensische Gefangene freikommen. Wer profitiert mehr von diesem Deal, Israel oder die Hamas? Und vor allem: Wie geht es danach weiter?

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Lukas Weyell sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Seit vergangenem Sonntag ist die Waffenruhe zwischen der israelischen Armee und der Hamas in Kraft. Die ersten drei israelischen Geiseln sind nach einer kurzen Verzögerung freigekommen, 30 weitere sollen in der ersten Phase des Abkommens folgen. Vermittler aus Katar hatten zusammen mit dem scheidenden US-Präsident Joe Biden am vergangenen Mittwoch verkündet, dass Israel und die Hamas sich auf eine Einigung verständigen konnten.

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Kurze Zeit sah es so aus, als ob Israels Premier Netanyahu sein Veto einlegen könnte. Teile seiner Regierung, darunter der ultrarechte Minister für Öffentliche Sicherheit, Itamar Ben-Gvir, und Finanzminister Bezalel Smotrich, hatten angekündigt einem solchen Abkommen nicht zustimmen zu wollen.

Smotrich und Ben-Gvir drohten mit Rücktritt

"Unsere weitere Anwesenheit in der Regierung hängt von der absoluten Gewissheit ab, den Krieg mit voller Kraft wiederaufzunehmen", drohte Smotrich am Mittwochabend laut der "Jerusalem Post". Der Einsatz der israelischen Armee müsse nach der ersten Waffenruhe weitergehen, "bis wir einen entscheidenden Sieg errungen haben, einschliesslich der vollständigen Vernichtung der Hamas und der sicheren Rückkehr aller Geiseln in ihre Häuser."

Obwohl Itamar Ben-Gvir mit zwei weiteren Ministern zurücktrat, hielt Israels Premier Netanyahu an dem Abkommen fest. "Wir sehen, die israelische Rechte tut alles, um Netanyahu unter Druck zu setzen, damit der Deal nicht in Gänze umgesetzt wird", erklärt Gil Shohat, Leiter des Israel-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv, gegenüber unserer Redaktion.

Wem hilft die Waffenruhe?

Die Feuerpause soll zunächst sechs Wochen lang eingehalten werden. In diesem Zeitraum sollen 33 israelische Geiseln im Austausch für 737 palästinensische Gefangene aus israelischen Gefängnissen freikommen. Es ist die erste Stufe der Annäherung, weitere könnten folgen. Doch Experten sind skeptisch, ob das Abkommen dazu geeignet ist, längerfristig für Frieden in der Region zu sorgen.

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Der Nahost-Experte Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik erklärte gegenüber dem "ZDF": "Wenn sich die Lage in Gaza stabilisiert, dann stabilisiert sie sich vor allem für die Hamas." Die Hamas bekomme nun die Ruhe, um ihre Strukturen wieder aufzubauen während andererseits die israelische Regierung ihrer Bevölkerung versprochen habe, dass diese Organisation zerschlagen werden wird.

Die Hamas ist nach wie vor eine politische Kraft im Gazastreifen

Nahost-Experte Gil Shohat sieht es ähnlich: "Die Hamas ist zwar militärisch signifikant geschwächt. Gleichzeitig ist sie nach wie vor da und operiert mit bewaffneten Kräften im Gazastreifen." Vor allem politisch sei die Hamas weiterhin ein wichtiger Player vor Ort. "Das liegt auch daran, dass es keine Alternativen gibt, um den Gazastreifen zu verwalten."

Wer in einer Nachkriegsordnung die Kontrolle dort übernehmen könnte, ist nach wie vor ungewiss. Zeitweise war eine internationale Eingreiftruppe im Gespräch, die die Sicherheit garantieren sollte. Nahost-Experte Shohat fordert, dass die palästinensische Bevölkerung hierzu befragt wird: "Eine Regierung ohne die Zustimmung der Menschen, die dort leben, ist zum Scheitern verurteilt."

Eine langfristige Lösung müsse ausserdem das Westjordanland beinhalten, so Shohat. Dort kam es in den vergangenen Monaten immer wieder zu Gewalt durch israelische Siedler, die von der israelischen Armee toleriert wurde.

"Es ist alles andere als sicher, dass dieser Waffenstillstand halten wird"

Stephan Stetter

Stephan Stetter von der Universität der Bundeswehr warnt hingegen: "Es ist alles andere als sicher, dass dieser Waffenstillstand halten wird. Die internationale Lage macht es zu einem schwierigen Unterfangen." Einen Drei-Punkte-Plan habe es bereits während der Zweiten Intifada gegeben, er scheiterte.

Erschwerend komme hinzu, dass die erste Phase bereits in mehrere Teilschritte unterteilt sei. "Jeder dieser Teilschritte, birgt die Möglichkeit, dass eine der Parteien aus dem Abkommen ausschert", so Stetter. In Phase Zwei sollen die verbliebenen ausländischen Geiseln freigelassen werden, die israelische Armee soll sich aus dem Gazastreifen zurückziehen, weitere palästinensische Straftäter sollen freigelassen werden.

Ohne Vermittler wird es nicht gehen

Erst in Phase Drei würde dann die Zukunft des Gazastreifens verhandelt. Entscheidend sei hierbei wie sehr die USA, die Golfstaaten und Ägypten Druck auf beide Seiten ausübten. "Israel und die Hamas werden hier kaum eigenständig aktiv. Es benötigt den Druck externer Akteure", so Nahost-Experte Stetter.

Die Golfstaaten böten sich als Vermittler an, da sie mit den USA verbündet sind und daher auch von Israel werden, und zugleich kulturell den Palästinensern näherstehen als es etwa europäische Vermittler. So wurde bereits der aktuelle Geiseldeal von Katar verhandelt – nachdem unter anderen die Bundesregierung dem Land dafür das Mandat erteilt hatte.

Juniorpartner Europa?

Genauso gut möglich ist laut Stetter jedoch, dass die Hamas das Machtvakuum ausnutzt, das durch den Waffenstillstand entsteht, und sich wieder im Gazastreifen ausbreitet. Das würde eine Einigung verhindern. Auch der Iran sei zwar schwer getroffen durch die Schläge gegen die Stellvertretermilizen, aber alles andere als ausgeschaltet.

Für die Zukunft der Region sei daher entscheidend, ob die USA und die Golfstaaten sich zügig als aktive Vermittler und Gestalter in Position bringen. "Das könnte auch Europa helfen, zumindest wieder eine Rolle als Juniorpartner zu spielen", so Stetter.

Über die Gesprächspartner

  • Prof. Dr. Stephan Stetter lehrt an der Universität der Bundeswehr München Internationale Politik und Konfliktforschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a. Theorien der internationalen Politik in der Globalen Moderne; Politik, Konflikte und Gesellschaft im Nahen und Mittleren Osten, mit Schwerpunkt Israel und Palästina.
  • Gil Shohat leitet das Israel-Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Tel Aviv.

Verwendete Quellen

Ex-Geiseln in Israel mit Familien vereint

Nach der Entlassung aus der mehr als 15-monatigen Geiselhaft im Gazastreifen sind die drei jungen Frauen Emily Damari, Romi Gonen und Doron Steinbrecher wieder mit ihren Familien in Israel vereint. Laut Ärzten sind alle drei in einem stabilen Zustand.
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