Trotz massiver internationaler Kritik treibt Israel eine Militäroffensive in Rafah voran. Die Regierung von Benjamin Netanjahu hofft der Hamas in der Stadt den finalen Stoss versetzen zu können. Die internationale Gemeinschaft befürchte hingegen eine humanitäre Katastrophe.

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Die Aufforderung, Rafah zu evakuieren kamen per SMS, per Telefon und über Flugblätter. Seit Monaten wird über eine geplante Offensive Israels in der palästinensischen Stadt hitzig diskutiert. Nun scheint Israels Militär ernst zu machen und drängt Bewohner des östlichen Teils von Rafah dazu, den Ort zu verlassen.

Rund "100.000 Personen" sind laut einem Armeesprecher von der Evakuierung betroffen. Sie sollen Schutz in einem Lager am Mittelmeer suchen. Dem Sprecher zufolge sei dieser Schritt "Teil unserer Pläne, die Hamas zu zerschlagen".

Denn Israel glaubt daran, die palästinensischen Terrororganisation in der Stadt ein für alle Mal zerschlagen zu können. Doch seine Verbündeten warnen schon lang vor der Offensive. Steht diese jetzt bevor und warum ist sie so umstritten? Die wichtigsten Fragen und Antworten.

Mögliche Offensive in Rafah: Wie ist die Ausgangslage?

Auslöser des Gaza-Kriegs war das beispiellose Massaker mit mehr als 1.200 Toten, das Terroristen der Hamas und anderer Gruppen am 7. Oktober 2023 in Israel verübten. Ungefähr 250 Menschen wurden zudem in den Gazastreifen verschleppt. Wie viele von ihnen noch am Leben sind, ist unklar, letzte Schätzungen gingen aber von etwa 130 Menschen aus.

Israel reagierte mit massiven Luftangriffen und einer Bodenoffensive. Doch Israel steht bei der Kriegsführung gegen die Hamas vor einem Dilemma. Denn die Terrororganisation versteckt sich hinter der Bevölkerung in Gaza. Zivile Opfer durch Israels Angriffe nimmt sie nicht nur in Kauf, sie sind auch Teil ihrer Strategie, um Israel international zu isolieren.

Tatsächlich wächst, angesichts der vielen Toten in Gaza, die Kritik an Israel. Die Vereinten Nationen bezifferte die Zahl der Opfer im Februar auf mehr als 30.000 Menschen. Auch in Israel selbst wird das Vorgehen der Regierung kritisiert. Vor allem, weil durch die Angriffe auch die noch lebenden israelischen Geiseln im Gazastreifen in Gefahr gebracht werden.

Netanjahu stand bereits vor dem 07. Oktober wegen einer umstrittenen Justizreform in der Kritik. Dass die Sicherheitsbehörden das Massaker nicht verhindern konnten und auch erst spät auf den Angriff reagierten, hat ihn innenpolitisch weiter geschwächt. Beobachter werfen Netanjahu deshalb vor, den Krieg im Gaza auszunutzen, um seine Machtposition zu festigen.

Warum ist Rafah so wichtig für Israel?

Israel hat sich zum Ziel gesetzt, alle verbleibenden Geisel aus der Gefangenschaft der Hamas zu befreien, sowie die Terrororganisation vollständig zu vernichten.

Rafah gilt als letzte Bastion der Hamas und als der Ort, an dem die verschleppten Israelis festgehalten werden. Israelischen Angaben zufolge verstecken sich hier noch vier Brigaden der Terrororganisation hier.

Auch der Hamas-Anführer Yahy Sinwar und weitere hochrangige Hamas-Mitglieder sollen sich in Rafah aufhalten. Israel argumentiert, dass die Hamas ohne die Offensive wiedererstarken und sich die Kontrolle über den Gazastreifen zurückholen könnte.

Wie ist die Lage in Rafah?

Die Stadt im Süden gilt als die einzige im Gazastreifen, die nach den monatelangen Kämpfen seit dem 07. Oktober noch vergleichsweise intakt ist. Dort befindet sich auch der Grenzübergang zu Ägypten, über den Hilfslieferungen in den Gazastreifen gelangen und unter anderem Verwundete das Gebiet verlassen können.

In der Stadt drängen sich, je nach Schätzung, etwa 1,5 Millionen der insgesamt 2,2 Millionen Bewohner des Gazastreifens auf engstem Raum. Viele davon sind Binnenflüchtlinge, die hier Zuflucht vor den Angriffen Israels in Folge des 07. Oktobers gesucht haben.

Hilfsorganisationen warnen daher vor vielen weiteren zivilen Opfern, sollte Israel eine militärische Operation in dem Gebiet starten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) befürchtet etwa ein "Blutbad", wie sie jüngst mitteilte.

Zudem würde eine neue Vertreibungswelle den Zugang zu Nahrungsmitteln, Wasser, Gesundheits- und Sanitärdiensten weiter einschränken. Das würde zu vermehrten Krankheitsausbrüchen, einer Verschlimmerung des Hungers und weiteren Todesfällen führen.

Was sagt die internationale Gemeinschaft zu einer Offensive in Rafah

Zahlreiche internationale Stimmen drängen Israel seit Monaten eindringlich, von der Offensive abzusehen. Vor allem die USA als wichtigster Verbündeter machten zuletzt mehr und mehr Druck. Den aus Sicht von Washington hat Israel bislang keinen ausreichenden Plan, um die Zivilbevölkerung in der Stadt zu schützen.

US-Präsident Joe Biden betonte etwa im März, dass bei einer Offensive in Rafah nicht zugelassen werden dürfe, dass weitere 30.000 Palästinenser sterben. Sein nationaler Sicherheitsberater, Jake Sullivan, erklärte damals: "Eine Militäroperation in Rafah, die die Zivilbevölkerung nicht schützt, die die Hauptadern der humanitären Hilfe abschneidet und den enormen Druck auf die israelisch-ägyptische Grenze ausübt" sei nichts, was die US-Regierung unterstützen könne.

Auch Deutschland warnte Israel immer wieder vor dem Schritt. "Eine Grossoffensive auf Rafah darf es nicht geben", hatte Aussenministerin Annalena Baerbock im März erklärt. Zuvor hatte sie bereits vor einer humanitären Katastrophe gewarnt.

UN-Generalsekretär António Guterres erklärte derweil Ende April: "Ein militärischer Angriff auf Rafah wäre eine unerträgliche Eskalation, die tausende weitere Zivilisten töten und hunderttausende zur Flucht zwingen würde."

Wie wahrscheinlich ist eine Offensive in Rafah?

Das lässt sich nicht mit Sicherheit sagen. Der internationale Druck auf Israel von der Offensive abzusehen ist hoch. Doch die Regierung von Benjamin Netanjahu hat zuletzt kaum Zweifel daran gelassen, trotzdem fest entschlossen zu sein, in Rafah einzumarschieren. "Wir werden nach Rafah hineingehen und die Bataillone der Hamas dort zerschlage", hatte der Ministerpräsidenten etwa Ende April erklärt.

Der israelische Verteidigungsminister Joav Galant bestärkte diese Haltung am Montag. In einem Telefonat mit seinem amerikanischen Amtskollegen Lloyd Austin sprach er davon, keine Alternativ zu dem Militäreinsatz zu sehen.

Einige Beobachter vermuten hingegen, dass Israel mit der Offensive den Druck auf die Hamas in den Verhandlungen über die Freilassung der übrigen israelischen Geiseln erhöhen will. Diese laufen derzeit in der ägyptischen Hauptstadt Kairo.

Galant erklärte bei dem Telefonat am Montag allerdings, dass die Hamas alle Vorschläge bei den Verhandlungen abgelehnt habe. Deswegen sei Militäraktion in Rafah jetzt notwendig. "Der Staat Israel wird die fortwährende Präsenz von Terrorstrukturen an der Grenze zu seinen Ortschaften nicht dulden", sagte Galant demnach.

Schon zuvor hatte israelische Regierungsvertreter betont, dass sie die Offensive in Rafah unabhängig von einem Geisel-Deal mit der Hamas vorantreiben wollten. Der rechtsextremer Finanzminister Bezalel Smotrich hatte Ende April sogar mit einem Ende der Regierung gedroht, sollte man sich gegen einen Militäreinsatz in Rafah entscheiden.

Und Netanjahu machte wenige Tage später deutlich: "Die Idee "dass wir den Krieg stoppen, bevor alle seine Ziele erreicht sind, kommt nicht infrage."

Mit Material der dpa

Verwendete Quellen

  • Deutsche Presse-Agentur (dpa)
  • Spiegel: Wie Menschen in Rafah leben müssen: Ein Verschlag von zehn Quadratmetern, nachts kommen die Ratten
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