Israels Regierung hält an der geplanten Grossoffensive auf Rafah fest. Die Hamas stimmt einer Feuerpause zu - aber wohl zu Bedingungen, die Israel nicht akzeptiert.
Israels Streitkräfte sind in Teile der Stadt Rafah im südlichen Gazastreifen vorgerückt und haben damit Sorgen vor einer folgenschweren Militäroffensive befeuert. Der Grenzübergang Rafah nach Ägypten sei auf der palästinensischen Seite unter "operativer israelischer Kontrolle", teilte ein ranghoher israelischer Militär mit.
Auf Videoaufnahmen der Armee war zu sehen, wie Panzer in den Grenzbereich von Rafah einrollten. Auf einem der Panzer wehte eine grosse israelische Nationalflagge. Die meisten Zivilisten und Vertreter internationaler Hilfsorganisationen hätten nach Evakuierungsaufrufen der Armee am Montag das Gebiet bereits verlassen, teilte der Militär weiter mit.
Hamas stimmt Waffenruhe zu - aber nur unter ihren Bedingungen
Im Kampf Israels gegen die islamistische Hamas im Gazastreifen ist eine Offensive auf Rafah seit Längerem geplant. International gibt es Sorgen, dass der Militäreinsatz folgenschwere Konsequenzen insbesondere für die Zivilbevölkerung haben könnte. Das israelische Kriegskabinett entschied am Montag, den Militäreinsatz in Rafah fortzusetzen, um den militärischen Druck auf die Hamas zu erhöhen und die eigenen Kriegsziele durchzusetzen. Die US-Regierung geht bislang nicht davon aus, dass die lange angekündigte Grossoffensive auf Rafah bereits begonnen hat.
Die Hamas hatte am Montagabend ihre Zustimmung zu einem Verhandlungsvorschlag über eine Waffenruhe erklärt. Nach israelischen Angaben entspricht dieser Vorschlag allerdings nicht den israelischen Forderungen. Der israelische Militär sagte, man prüfe den Vorschlag.
Israel werde eine Delegation nach Kairo schicken. Dort soll es am Dienstag ein weiteres Treffen von Unterhändlern geben, um eine Waffenruhe, die Freilassung von Geiseln und Häftlingen sowie die ungehinderte Lieferung humanitärer Hilfsgüter in den Gazastreifen zu ermöglichen, wie das Golfemirat Katar in der Nacht mitteilte. Katar, Ägypten und die USA agieren als Vermittler zwischen der Hamas und Israel, die aus Prinzip keine direkten Verhandlungen miteinander führen.
Israel: "Präziser Anti-Terror-Einsatz in sehr begrenztem Umfang"
Der israelische Militärvertreter sagte am Dienstag zu den aktuellen Entwicklungen, es handele sich um einen "präzisen Anti-Terror-Einsatz in sehr begrenztem Umfang". Spezialtruppen durchsuchten den Rafah-Übergang nach Terroristen. Es gebe Hinweise darauf, dass die Hamas die Gaza-Seite des Übergangs für Terrorzwecke missbraucht habe.
Aus dem Gebiet hätten Mitglieder des militärischen Hamas-Arms am Sonntag Raketen auf den israelischen Grenzübergang Kerem Schalom abgefeuert. Dabei waren vier israelische Soldaten getötet worden. Der Grenzübergang für humanitäre Hilfsgüter sei nach dem Angriff weiterhin geschlossen, man wolle ihn jedoch so schnell wie möglich wieder öffnen. Kerem Schalom ist der wichtigste Grenzübergang für die Lieferung von Hilfsgütern aus Israel in den Gazastreifen.
Das Nachrichtenportal "Axios" berichtete unter Berufung auf israelische Regierungsbeamte, der Einsatz von Panzern und Bodeneinheiten östlich von Rafah sei als erste Phase der Offensive zu verstehen. Die Übernahme des Grenzübergangs Rafah solle nicht nur den Machtverlust der Hamas im Gazastreifen demonstrieren. Anschliessend sollten Palästinenser ohne Verbindung zu den Islamisten an der Verteilung von Hilfsgütern beteiligt werden, die aus Ägypten in das abgeschottete Küstengebiet kommen.
UN und USA warnen vor Bodenoffensive
UN-Generalsekretär António Guterres rief die Konfliktparteien auf, alles dafür zu tun, um endlich ein Abkommen zu erreichen. "Eine Bodenoffensive in Rafah wäre nicht hinnehmbar aufgrund der verheerenden humanitären Folgen und wegen der destabilisierenden Folgen für die Region." Ebenso hat Entwicklungsstaatssekretär Jochen Flasbarth hat das Vorrücken der israelischen Streitkräfte auf die Stadt Rafah als besorgniserregend bezeichnet.
Auch US-Präsident Joe Biden appellierte nach einem Treffen mit dem jordanischen König Abdullah II. in Washington, die Freilassung aller Geiseln, eine dauerhafte Waffenruhe sowie humanitäre Hilfe seien dringend nötig. Der Kommunikationsdirektor des Nationalen Sicherheitsrats, John Kirby, bekräftigte mit Blick auf Rafah, die US-Regierung unterstütze keinen Einsatz, der mehr als eine Million Menschen einem grossen Risiko aussetze.
Zwar hatte Hamas-Auslandschef Ismail Hanija den katarischen Ministerpräsidenten und den ägyptischen Geheimdienstchef nach eigenen Angaben per Telefon über die Entscheidung der Islamistenorganisation informiert, einen Kompromissvorschlag der Vermittler anzunehmen. Und das katarische Aussenministerium liess wissen, die Antwort der Hamas könne "als positiv beschrieben werden". Doch über den Inhalt dieser Vorschläge ist offiziell bisher wenig bekannt.
Hamas soll dreistufigem Plan zugestimmt haben
Der Sender CNN berichtete, die von der Hamas akzeptierte Fassung enthalte drei jeweils 42-tägige Phasen. Die erste sehe unter anderem die Freilassung von 33 Geiseln im Austausch für hunderte palästinensische Häftlinge, einen schrittweisen Teilabzug israelischer Truppen aus dem Gazastreifen und Bewegungsfreiheit für unbewaffnete Palästinenser in dem Küstengebiet vor.
Die zweite Phase sei nicht detailliert ausgearbeitet, laufe aber auf die Freilassung aller restlichen Geiseln, den Komplettabzug der israelischen Armee aus Gaza und eine dauerhafte Kampfpause hinaus. In der dritten Phase soll demnach ein auf drei bis fünf Jahre angelegter Prozess zum Wiederaufbau Gazas beginnen.
Die Ankündigung der Hamas, sie habe ihre Zustimmung signalisiert, löste im Gazastreifen Jubelszenen auf den Strassen aus. In Rafah, Gaza-Stadt und anderen Orten strömten Menschen auf die Strassen, um zu feiern. Die Reaktion der israelischen Seite und die folgenden Ereignisse nährten jedoch Zweifel, ob wirklich ein Durchbruch erzielt wurde.
"Alle möglichen Klauseln" in Vorschlag eingefügt
Aus dem Büro des israelischen Regierungschefs Benjamin Netanjahu hiess es, der Vorschlag der Hamas sei weit entfernt von dem, was Israel verlange. Das Kriegskabinett habe denn auch zugestimmt, an der geplanten Offensive in Rafah festzuhalten. Bei dem Vermittler-Vorschlag handele es sich nicht mehr um den gleichen, auf den sich Israel und Ägypten vor zehn Tagen geeinigt hätten und der die Grundlage indirekter Verhandlungen gewesen sei, hiess es von israelischer Seite. Es seien "alle möglichen Klauseln" eingefügt worden, berichtete der Fernsehsender Channel 12.
Der israelische Polizeiminister Itamar Ben-Gvir bezeichnete die Zustimmung der Hamas als taktischen Kniff. "Es gibt nur eine Antwort auf die Tricks und Spiele der Hamas: einen sofortigen Befehl, Rafah zu erobern, den militärischen Druck zu erhöhen und Hamas weiter bis zur vollständigen Niederlage zu bedrängen", zitierten israelische Medien den Rechtsaussen-Politiker.
Geisel-Angehörige demonstrieren in Israel
In einer Stellungnahme der Angehörigen der von der Hamas verschleppten Geiseln hiess es am Montagabend, die Ankündigung der Islamisten müsse den Weg für die Rückkehr der Verschleppten ebnen.
Vertreter der Angehörigen begrüssten die Ankündigung der Regierung Netanjahus, eine Verhandlungsdelegation zu Gesprächen mit den Vermittlern zu entsenden. In mehreren Städten Israels kam es am Montagabend zu Demonstrationen für eine Verhandlungslösung zur Freilassung der Geiseln.
Israel will mit dem Militäreinsatz in Rafah die verbliebenen Bataillone der islamistischen Terrororganisation Hamas zerschlagen, die sie seit Oktober in Gaza bekämpft. In der Stadt werden die Hamas-Führung und auch Geiseln vermutet. Auslöser des Gaza-Kriegs war das beispiellose Massaker mit mehr als 1.200 Toten, das Terroristen der Hamas und anderer Gruppen am 7. Oktober in Israel verübt hatten.
Israels Verbündete haben sich in den vergangenen Wochen immer wieder kritisch über die erwartete Bodenoffensive in Rafah geäussert und Israels Regierung davon abzubringen versucht, da sich in der überfüllten Stadt zahlreiche Flüchtlinge befinden, die vor Kämpfen in anderen Teilen des Gazastreifens Schutz gesucht haben.
Israel forderte am Montag etwa 100.000 Palästinenser auf, Rafah aus Sicherheitsgründen zu verlassen. Die betroffenen Bewohner sollten sich in das Gebiet Al-Mawasi nahe der Küste begeben. (dpa/lag)
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