Israel muss sich vor dem Internationalen Gerichtshof erstmals wegen des Vorwurfs des Völkermordes verantworten. Das höchste UN-Gericht sieht zumindest das Risiko von Völkermord im Gazastreifen. Was heisst das für den Militäreinsatz?
Es ist ein klares Signal aus Den Haag: Der Internationale Gerichtshof hat die Gefahr von Völkermord im Gazastreifen festgestellt und Israel verpflichtet, alles zu tun, um das zu verhindern. Das Weltgericht ordnete am Freitag zwar nicht das Ende des israelischen Militäreinsatzes an. Dennoch wird die Entscheidung vielfach als Schlappe für Israel bewertet. Denn hier geht es immerhin um das höchste Gericht der Vereinten Nationen. Der internationale Druck auf Israel, einer Waffenruhe zuzustimmen und mehr humanitäre Hilfe zuzulassen, könnte zunehmen.
In dem höchst brisanten Völkermord-Verfahren war dies nur eine erste Entscheidung. Südafrika hatte die Klage Ende Dezember eingereicht und Israel die Verletzung der Völkermord-Konvention vorgehalten. Zugleich hatte Südafrika in einem Eilantrag Schutzmassnahmen für die Palästinenser und ein Ende des Militäreinsatzes gefordert.
Richter haben sich noch nicht mit Völkermord-Vorwurf befasst
Die 17 Richter befassten sich nun noch nicht mit dem Vorwurf des Völkermordes. Das wird Gegenstand des Hauptverfahrens, das sich über Jahre hinziehen kann. Israel wies diese Vorwürfe als haltlos zurück. Ministerpräsident
Israel beruft sich auf das Recht zur Selbstverteidigung nach dem verheerenden Massaker der Hamas und anderer Terrorgruppen vom 7. Oktober. Etwa 1.200 Menschen waren im Grenzgebiet ermordet worden und rund 250 entführt. Auch Gerichtspräsidentin Joan Donoghue erinnerte an die Attacke und das Leid der Opfer und ihrer Angehörigen.
Das Massaker war der Auslöser für die grosse Offensive Israels im Gazastreifen. Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde wurden dabei bereits mehr als 26.000 Menschen getötet. 75 Prozent von ihnen seien Frauen, Kinder, Jugendliche oder ältere Männer gewesen. Die Angaben lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Gerichtspräsidentin schildert verzweifelte Lage in Gaza
Gerichtspräsidentin Donoghue schilderte die verzweifelte Lage in dem Küstenstreifen und zitierte ausführlich UN-Berichte. "Das Gericht ist sich sehr bewusst über das Ausmass der menschlichen Tragödie, die sich in der Region abspielt und ist zutiefst beunruhigt über den andauernden Verlust von Leben und menschliches Leiden."
Die Richter entsprachen nur teilweise dem Eilantrag Südafrikas, indem es nicht wie gefordert die sofortige Einstellung der militärischen Handlungen anordnete. Doch verpflichteten die Richter Israel, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um das Leben der Palästinenser zu schützen. Es muss demnach auch mehr humanitäre Hilfe zulassen. Israel muss nach der Entscheidung auch Aufrufe zum Völkermord verhindern und bestrafen sowie dem Gericht innerhalb eines Monats einen Bericht über die getroffenen Massnahmen vorlegen.
Nun ist die Frage, was Israel tun wird. Entscheidungen des UN-Gerichts sind bindend. Doch die Richter haben kein Machtmittel, um diese auch durchzusetzen. Israels Regierungschef Netanjahu äusserte sich zurückhaltend: "Israels Respekt für das internationale Recht ist unerschütterlich", sagte er in einer Video-Botschaft. Doch werde sich Israel weiterhin "gegen die Hamas, eine völkermordende terroristische Organisation, zur Wehr setzen".
Südafrika spricht von einem "entscheidenden Sieg"
Südafrika sprach von "einem entscheidenden Sieg für die internationale Rechtsstaatlichkeit" und einem "bedeutenden Meilenstein bei der Suche nach Gerechtigkeit für das palästinensische Volk".
Vor dem Friedenspalast in Den Haag, dem Sitz des Gerichts, brach Jubel aus. Hunderte propalästinensische Demonstranten, darunter auch die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg, verfolgten dort die Verlesung des Urteils auf einem grossen Bildschirm. Proisraelische Demonstranten erinnerten vor dem Gericht hingegen an das Schicksal der israelischen Geiseln, die seit dem Massaker vom 7. Oktober im Gazastreifen festgehalten worden.
Wann das Verfahren zum Hauptvorwurf des Völkermordes beginnen wird, ist nicht bekannt. Es kann sich über Jahre hinziehen. Das ist keine gute Aussicht für Israel. Denn so bleibt der Vorwurf wie eine dunkle Wolke über dem Land schweben. Und er trifft gerade Israel hart. Denn der jüdische Staat war nach dem Zweiten Weltkrieg unter dem Eindruck des Holocausts gegründet worden, des Massenmordes an etwa sechs Millionen Juden durch die deutschen Nationalsozialisten. Auch die Völkermord-Konvention, auf die sich Südafrika in der Klage beruft, entstand als Folge dieses Völkermordes. (Annette Birschel, dpa/tas)
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