Im Kibbuz Beeri sind mehr als hundert Menschen getötet worden, weitere wurden von der radikalislamischen Hamas verschleppt. Überlebende erzählen von der Tragödie – ein 57-Jähriger vergleicht sie mit 9/11: "Der Ort, an dem ich lebe, wird nie wieder derselbe sein."
Im ersten Moment dachte Inbal Reich Alon, es gebe ein Gewitter. Doch schnell wurde der 58-Jährigen klar, dass es nicht donnerte, sondern ihr Kibbuz angegriffen wurde. Kämpfer der radikalislamischen Hamas überfielen am Samstagmorgen den Kibbuz Beeri an der Grenze zum Gazastreifen und töteten dort mehr als hundert der rund 1.000 Bewohner und verschleppten weitere. Etwa 150 Überlebende aus dem Kibbuz fanden in einem Hotel am Toten Meer Zuflucht.
Reich Alon hörte Explosionen und Schreie auf Arabisch. Sie flüchtete mit ihrer Familie in einen Schutzraum. "Wir hatten keine Ahnung, was draussen vor sich ging", berichtet die Frau im Gespräch mit Reportern der Nachrichtenagentur AFP. 15 Stunden lang harrte die Familie in dem Schutzraum aus, während die palästinensischen Angreifer ihr Haus in Brand steckten und Dutzende Nachbarn ermordeten und entführten.
Armeesprecher Daniel Hagari sprach am Montag von "etwa 70 Terroristen, die über Nacht in den Kibbuz Beeri eindrangen". "Die meisten von ihnen wurden nach Feuergefechten getötet", sagte er israelischen Medien.
Überlebende erzählt: "Wir hatten einfach Glück"
"Wir hatten einfach Glück", sagt Reich Alon im ruhigen Hotel David, das zwischen dem Toten Meer und den Hügeln Judäas etwa 60 Kilometer südlich von Jerusalem liegt. "Wir sind ein grosser Kibbuz", sagt sie und korrigiert sich dann selbst: "Wir waren es zumindest." Ob sie jemals wieder in ihre Siedlung zurückkehren wird, weiss Reich Alon nicht.
Im Erdgeschoss des Hotels stapeln sich Kleidung, Spielzeug und Lebensmittel – Spenden für die Kibbuz-Bewohner, die innerhalb weniger Stunden gesammelt wurden. "Israel hat eine unglaubliche Zivilgesellschaft", sagt Reich Alon. "Leute brachten Medikamente, Kleidung, Kosmetika. Wir kamen hierher nur mit dem, was wir anhatten, manche von uns waren barfuss."
Während ihre Eltern die Spenden nach Passendem durchsuchen, spielen und malen Kinder in der Nähe. Eine Frau geht weinend mit ihrem Hund spazieren. Psychologen bieten ehrenamtlich Unterstützung an.
Vorwürfe gegen Regierung unter Benjamin Netanjahu
Alon Pauker blickt hinaus aufs Tote Meer. "Das ist eine Tragödie wie 9/11", sagt der 57-Jährige. "Der Ort, an dem ich lebe, wird nie wieder derselbe sein." Auch Pauker wohnt in Beeri; er ist Historiker und unterrichtet am Beit Berl College.
"Wir müssen begreifen, dass wir nicht mehr den Kibbuz haben, den wir hatten, und dass wir nicht mehr das Land haben, das wir hatten. Das ist eine tektonische Verschiebung", sagt er. Pauker gibt nicht der Hamas allein die Schuld an der Eskalation der Gewalt, er wirft der ultrarechten israelischen Regierung unter
"Die Armee hat die Bürger nicht verteidigt", sagt Pauker. Das Militär sei im besetzten Westjordanland mit dem Schutz der illegalen jüdischen Siedlungen beschäftigt gewesen. "Die Armee hat zum ersten Mal bewiesen, dass sie nicht weiss, wie man Zivilisten schützt", sagt Pauker.
Jahrelang habe Israel eine mögliche Bedrohung durch die Hamas "vom Tisch gewischt", sagt auch Reich Alon. Aber die Kämpfer, die den Kibbuz angriffen, "wussten, was sie taten. Wir haben es mit einem wirklich mächtigen Feind zu tun".
Grossangriff der Hamas hat Weltbild der Kibbuz-Bewegung erschüttert
Die israelische Kibbuz-Bewegung, die vor der Staatsgründung 1948 entstand, hat ihre Wurzeln im Sozialismus und steht bis heute der Linken nahe. Doch jetzt seien sie gezwungen, ihre Vorstellungen von einem Frieden mit den Palästinensern zu überdenken, sagen die Überlebenden aus Beeri. Noch vor wenigen Tagen war es für sie undenkbar, eine Offensive auf den Gazastreifen gutzuheissen. Doch der grausame Grossangriff der Hamas vom Samstag hat ihr Weltbild erschüttert.
"Wir haben es mit einer Terrororganisation zu tun, die grundlos Kinder ermordet“, sagt Pauker. Israel hat seit Beginn des Angriffs mehr als 900 Tote gezählt, während 760 Menschen bei Vergeltungsangriffen auf den Gazastreifen ums Leben kamen, unter ihnen auch Kinder.
"Extremisten sowohl in Israel als auch in Gaza nähren sich gegenseitig und kümmern sich nicht um Menschenleben", urteilt Pauker. "Wir wollen diese Kriege nicht, wir wollten und wollen mit unseren Nachbarn in Frieden leben", sagt Reich Alon.
Aber dennoch will sie im Moment nur, dass die nach Gaza verschleppten Geiseln befreit werden. "Es mir egal, was dann dort übrig bleibt", sagt Reich Alon – und ist selbst erschrocken, dass sie nun so denkt. (AFP/tas)
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