Seit Samstag wird in Israel gekämpft. Die radikalislamische Terrororganisation Hamas soll nach Militärangaben etwa 700 Menschen getötet haben, darunter vor allem Zivilisten und mehr als 40 Soldaten. Ein Militärsprecher und ein politischer Beobachter sprechen über die Situation vor Ort.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Clemens Sarholz sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

Die Redaktion erreicht Arye Sharuz Shalicar telefonisch, als in Tel Aviv gerade ein Raketenalarm die Menschen in die Schutzbunker treibt. Seit über 30 Stunden befindet sich Israel unter Beschuss von "Killerkommandos", wie Shalicar die Angreifer nennt, "die Menschen ermordet und entführt haben".

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Er ist Sprecher des israelischen Militärs. Die Videos mit Menschenrechtsverletzungen gehen um die Welt und weite Teile der Welt fragen sich, wie die Lage vor Ort ist; ob das israelische Militär die Lage langsam wieder unter Kontrolle kriegen kann. Er spricht von über 1.000 getöteten und entführten Israelis.

Unklare Lage im Augenblick

Es gebe immer noch eine Handvoll schwerbewaffneter Terroristen, sagt Shalicar, die sich verschanzt haben und gegen das israelische Militär kämpfen. Er spricht von "Terrorzellen".

Die Lage unter Kontrolle zu bringen sei sehr schwierig, denn an 20 bis 30 Stellen sei der 60 Kilometer lange Zaun, der den Gaza-Streifen von Israel trennt, heruntergerissen worden, so, dass die Hamas von dort aus schnell in die Dörfer und Ortschaften in der Nähe des Gazastreifens eindringen konnten. Die Lage sei also sehr unübersichtlich im Augenblick.

Mittels Luftschlägen versuche man strategisch wichtige Ziele im Gazastreifen zu zerstören, erklärt Armeesprecher Shalicar. So ziele man beispielsweise auf Waffendepots und Tunnel, durch die die Hamas sich organisieren können.

Der 7. Oktober habe vielleicht das dunkelste Kapitel in der Geschichte Israels, seit der Staatsgründung im Jahr 1948 eingeläutet. Der Zeitpunkt sei auf jeden Fall sehr bewusst gewählt: Der Angriff begann genau 50 Jahre nach Beginn des Jom-Kippur-Krieges.

Aufforderung zum Terror

"Sehr gut orchestriert und sehr gut vorbereitet" nennt der Leiter des Konrad-Adenauer-Stiftungsbüros für die Palästinensischen Gebiete in Ramallah, Steven Höfner, die Angriffe. Keine Kurzschlussreaktion der Hamas, sondern darauf ausgelegt, die gesamte Region zu destabilisieren und andere Akteure in der Region mit einsteigen zu lassen in die Gewalteskalation. So werde ein "neues Eskalationspotential" freigelegt.

Am Sonntagmorgen gab es Raketenangriffe, zu denen sich die radikalislamische Hisbollah-Milliz im Libanon bekannt hat. Höfner erklärt, dass die Hisbollah das Überraschungsmoment am Samstag nicht ausgenutzt habe, es sei aber nicht auszuschliessen, dass die Miliz in den nächsten Tagen nicht doch noch mit in die Kampfhandlungen eingreift. Eine noch grössere Ungewissheit bestehe mit Blick auf den Iran, der innenpolitisch unter Druck stünde. Er wolle die lokale Lage eventuell für sich nutzen, um weiter auf den Konflikt einzuwirken, oder "auch direkt einzusteigen".

Offizielle Stellungnahmen unwahrscheinlich

Offiziell bezeichneten Sprecher die Offensive der Hamas als Antwort auf israelische Provokationen auf dem Tempelberg, den Siedlungsbau sowie immer wieder aufkommende Gewalt im Westjordanland. Doch diese Entwicklungen sind nicht neu.

Höfner hat eine andere Erklärung: Die Friedensbemühungen zwischen Saudi-Arabien und Israel unter der Leitung der USA hätten die Hisbollah, die Hamas und den Iran unter Druck gesetzt. Hätte es im Nahen Osten eine Normalisierung der Beziehungen gegeben, wäre das ein Meilenstein auf dem Weg zum Frieden gewesen – die Hoffnungen auf einen unabhängigen Palästinenserstaat wären mit einem solchen Friedensschluss allerdings in sehr weite Ferne gerückt. Sie hätten also ein grosses Interesse daran, die Friedensbemühungen zu torpedieren.

Zumindest kurzfristig hätte die Hamas damit ihre Ziele auch erreicht. Er geht davon aus, dass die Friedensverhandlungen zwischen dem mächtigsten arabischen Staat und Israel erstmal pausieren werden.

Shalicar über historisch einmalige Situation: "Das ist eine Erniedrigung"

Eine der grössten Schwierigkeiten, da sind sich Militärsprecher und der politische Beobachter Höfner einig, ist der Umgang mit den Geiseln, die von der Hamas genommen wurden. "Das ist ein Faustpfand und eine Erniedrigung – und natürlich werden sie die Geiseln auch als menschliche Schutzschilde benutzen", sagt Shalicar.

Die Geiselsituation stelle einen Balanceakt für die israelische Politik- und Militärführung dar, weil es sich um eine historisch einmalige Situation handelt: harte Gegenschläge bei gleichzeitiger Befreiung der Geiseln, die mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Tunnel verschleppt worden sind. Höfner habe aus den lokalen Medien auch schon von israelischen Luftangriffen gehört, in denen Geiseln der Hamas umgekommen seien.

Viele Stimmen sprächen für eine Bodenoperation, die allerdings in einem sehr gefährlichen Häuserkampf münden würde. Auch in den nächsten Tagen seien noch intensive Kämpfe mit unklarem Ausgang zu erwarten.

Wie konnte es so weit kommen?

Warum der Angriff so überraschend kommen konnte, warum die israelischen Stellungen am Rand zum Gazastreifen so schnell haben überrannt werden können, all das werde später untersucht, sagt Militärsprecher Shalicar. "Jeder Einzelne von den Terroristen, denen so viel Blut an den Händen klebt, soll jetzt den Preis dafür zahlen, was sie den unschuldigen Menschen angetan haben", fügt er hinzu.

Schaut man sich auf Facebook, Instagram und Twitter um, fallen vor allem auch Unterstützer der Hamas auf. Palästinenser die in Kanada, oder in Berlin die Taten der Hamas feiern, Süssigkeiten an Kinder verteilen. Sie äussern häufig das Argument, dass die Palästinenser im grössten Freiluftgefängnis der Welt eingepfercht sind.

Um nicht falsch verstanden zu werden, erklärt Höfner vorab, dass er "auf keinen Fall den Terrorismus der Hamas rechtfertigen" will, doch sei es "allen Beobachtern klar gewesen, dass es eines Tages eine neue Eskalation geben wird." Die Lebensverhältnisse im Gazastreifen seien so prekär, dass viele Menschen aufgrund der Perspektivlosigkeit und der wirtschaftlichen Aussichten deprimiert und frustriert seien, woraufhin sie sich auch radikalisieren würden.

Die Lebensverhältnisse im Gazastreifen bezeichnet er als einen "Brutkasten für Radikalisierung". Es habe in der Vergangenheit auch keine pragmatische, umsetzbare Strategie mehr gegeben, wie man die Situation befrieden könnte. Was sich allerdings im Augenblick offenbare, ist dass es keine absehbare Friedenslösung gibt.

Die Hamas hätten diesen Schritt sehr bewusst gemacht, mit allen Konsequenzen, die das für ihre eigenen Strukturen und Anhänger haben kann und haben wird. Sie wüssten, dass Israel mit voller Härte zurückschlagen wird.

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