Am Samstag, 7. Oktober, haben palästinensische Terroristen Israel angegriffen. Tel Aviv hat Rache geschworen und holt zu Gegenschlägen aus. Die Sicherheitslage im Nahen Osten gleicht einem Pulverfass – droht ein Flächenbrand mit nicht absehbaren Folgen? Expertin Beatrice Gorawantschy erklärt, was jetzt wie ein Brandbeschleuniger wirken würde.
Es gibt einen neuen Krieg in der Region des Nahen Ostens: Der Überraschungsangriff der Hamas auf Israel am Samstag (7.), der bereits jetzt mehrere hundert Tote und tausende Verletzte forderte, hat eine Welle der Gewalt losgetreten. Islamistisch-militante Hamas waren am Wochenende in Israel eingedrungen und hatte mehrere Orte, auch aus der Luft, angegriffen. Zudem wurden etwa 150 israelische Geiseln in den Gaza-Streifen verschleppt.
Die scharfe Rhetorik Israels liess nicht lange auf sich warten und es mehren sich die Anzeichen für eine bevorstehende Bodenoffensive Israels im Gaza-Streifen. Das Küstengebiet am östlichen Mittelmeer zwischen Israel und Ägypten wird von knapp 1,7 Millionen Palästinensern bewohnt.
Droht jetzt ein Flächenbrand?
"Was die Hamas erleben wird, wird hart und fürchterlich sein", sagte Ministerpräsident
Beatrice Gorawantschy, Leiterin der Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel, beobachtet die Situation im Nahen Osten mit Sorge, denn: eine mögliche Ausweitung des Konflikts kann sie nicht ausschliessen. "Ein Flächenbrand könnte unterschiedliche Dimensionen haben", warnt sie. Derzeit sei der Gegenschlag der Israelis auf den brutalen Angriff der Hamas auf den Gaza-Streifen begrenzt. Doch man wisse nicht, ob auch die Westbank noch einbezogen werde.
Ausweitung auf den Libanon befürchtet
Das Westjordanland wird von Israel besetzt, ein Teil steht aber unter palästinensischer Verwaltung. Die Sicherheitslage ist dauerhaft angespannt. "Eine weitere Eskalation im Westjordanland ist nicht auszuschliessen. Das wäre Teil eines Flächenbrandes", so Gorawantschy. Ausserdem könne sich der Konflikt auf Nachbarstaaten auswirken.
"Israel hat die Grenze im Norden sehr fest im Blick", ist sich die Expertin sicher. An Israels Nordgrenze zum Libanon wurden bereits am Montag (9.) Gefechte vermeldet – israelische Soldaten sollen mehrere Bewaffnete getötet haben, die nach Israel vorgedrungen waren. Der Libanon ist der Hauptsitz der Hisbollah, einer wie die Hamas mit dem Iran verbündeten Schiitenorganisation. Sie dementierte zuletzt jedoch eine Beteiligung.
Hisbollah als Verbündeter
"Falls aus dem Norden weitere Angriffe erfolgen, sind wir in einer sehr prekären Situation. Wenn sich die Hisbollah aus dem Libanon beteiligen würde, muss man davon ausgehen, dass sie über einen Bestand von 100.000 bis 150.000 Raketen verfügt", warnt Gorawantschy. Das Aussmass der Auseinandersetzung wäre dann ungleich grösser.
Ausserdem habe die Hamas zu Beginn des Angriffs alle muslimischen Verbündeten zur Unterstützung aufgerufen. In dem Manifest der Terror-Organisation, die über mehrere bewaffnete Flügel verfügt, ist die vollständige Zerstörung des Staates Israels als oberstes Ziel genannt.
Iran im Fokus
Gorawantschy ist sich sicher, dass der gut organisierte Angriff der Hamas kein Zufall war: "Einen solchen Angriff kann man nicht kurzfristig planen. Er wurde von mehreren Seiten ausgeübt – auf dem Land, aus der Luft und zu Wasser", erinnert sie. Er müsse über Monate geplant worden sein. "Das kann die Hamas nicht alleine geplant haben. Da waren Drahtzieher dahinter", vermutet sie. Der Name eines Landes steht dabei im Raum: Der Iran, der als grösster Unterstützer der palästinensischen Terrororganisationen gilt.
Dessen Staatsoberhaupt, Ali Chameini, hat eine Verstrickung in den Hamas-Angriff auf Israel allerdings zurückgewiesen. "Unterstützer des zionistischen Regimes" hätten unsinnige Worte verbreitet, so der Ajatollah während einer Fernsehansprache. Sie hätten die Verantwortlichkeit für die Angriffe dem Iran zugeschrieben. "Sie machen einen Fehler", so Chamenei. Der 84-Jährige betonte: "Natürlich verteidigen wir Palästina. Natürlich verteidigen wir die Kämpfe."
Friedliche Lösung in weiter Ferne
Man sei stolz auf diejenigen, die die Angriffe geplant hätten, die gesamte islamische Welt sei verpflichtet, die Palästinenser zu unterstützen. "Israel und der Iran sind sich aber darüber im Klaren, welche hohe menschlichen Kosten eine solche Ausweitung mit sich brächte", meint Gorawantschy.
Das israelische Sicherheitskabinett habe den Kriegszustand ausgerufen – "man kann sich nun jeglicher Mittel bedienen. Das könnte auf eine militärische Auseinandersetzung mit dem Iran hinauslaufen", warnt die Expertin.
Eine friedliche Lösung ist aus ihrer Sicht in weite Ferne gerückt. "Der brutale Angriff der Hamas kam für die Israelis überraschend und hat das Land im Mark getroffen", sagt sie. Der Angriff sei an einem hohen jüdischen Feiertag erfolgt und zum 50-jährigen Jubiläum des Jom-Kippur-Krieges. Damit habe man die Israelis sehr gedemütigt. Der Selbstverteidigungswille sei also sehr hoch.
Deeskalation bleibt schwierig
"Man muss nun abwarten und in Etappen denken", meint Gorawantschy. Das unmittelbare Ziel der Israelis sei es, für die Sicherheit der eigenen Bevölkerung zu sorgen. Diese war zuletzt massiv beeinträchtigt, als 800 bis 1.000 militante Terroristen über den Grenzzaun nach Israel gekommen waren. Die angegriffenen Ortschaften konnte Israel inzwischen wieder unter seine Kontrolle bringen, aber: "Einige der Terroristen befinden sich vermutlich noch im israelischen Kernland. Das muss Israel komplett unter Kontrolle bringen", so die Expertin.
Israel müsse sich auch um die Geiseln kümmern, die verschleppt worden sind und die Nordgrenze im Auge behalten. "Dann erst kommt die etwas weitere Dimension und der Erzfeind Iran", meint Gorawantschy. Ein Brandbeschleuniger könnte es aus ihrer Sicht aber sein, wenn die Lage im Norden eskalieren würde.
Möglichkeiten der Deeskalation beurteilt die Expertin als äusserst schwierig. "Ägypten ist bereits als Vermittler eingeschaltet worden, aber hier ist etwas anderes passiert als bei Gaza-Eskalationen, die es mehrfach in der Vergangenheit gab", macht sie deutlich. Israel sei mit Brutalität ins Herz getroffen worden. "Das ist nicht so einfach zu deeskalieren", sagt sie.
Israel wird Vergeltung üben
Die Hamas hatte dem arabischen Sender Al-Dschasira mitgeteilt, sie sei offen für Vermittlungen und forderte einen Gefangenenaustausch sowie die Freilassung von 36 inhaftierten Palästinenserinnen in Israel für die Übergabe von älteren entführten Israelinnen. "Angesichts der brutalen Art und Weise des Angriffes wird Israel aber zurückschlagen, um nach Aussen deutlich zu machen, dass es seine Schlagkraft weiterhin besitzt und sich und seine Bevölkerung verteidigen kann", ist sich Gorawantschy sicher.
Laut dem israelischen Präsident Izchak Herzog wurden seit dem Holocaust nicht mehr so viele Juden an einem Tag getötet wie bei den Terrorattacken der Hamas am Wochenende. "Eine Einigung des Nah-Ost-Konflikts ist damit in ganz weite Ferne gerückt", sagt Gorawantschy.
Grundkonflikt seit über 100 Jahren
Der festgefahrene Grundkonflikt besteht bereits seit über 100 Jahren. Die Internationale zionistische Bewegung hatte Ende des 19. Jahrhunderts angesichts gewachsenem Antisemitismus das Ziel, einen jüdischen Staat zu gründen.
Nach den beiden Weltkriegen wanderten immer mehr Jüdinnen und Juden in das "Heilige Land" aus, das damals Palästina hiess. Die Vereinten Nationen versuchten einen jüdischen und einen arabischen Staat sowie ein international kontrolliertes Jerusalem zu vermitteln, doch die arabische Seite lehnte den Plan ab.
Festgefahrene Situation
Nachdem Israel 1948 seine Unabhängigkeit erklärte, reagierten die Nachbarstaaten mit einer Kriegserklärung. Im Kampf um sein Existenzrecht besetzte Israel immer neue Gebiete, schliesslich auch das Westjordanland. Dadurch fühlen sich die Palästinenser in ihren Rechten beschnitten, ausserdem leben viele von ihnen in grosser Armut.
Bereits seit den 1970er-Jahren gibt es immer wieder Gewaltakte, Anschläge und Geiselnahmen. "Der Konflikt konnte in den letzten Jahrzehnten in keiner Weise gelöst werden", sagt Gorawantschy. Seit dem Friedensabkommen von Oslo im Jahr 1993 zwischen Israel und der Palästinensischen Befreiungsorganisation sei die Situation festgefahren.
Politische Zukunft von Israel
"Es gab Hoffnungen, als Israel mit einigen arabischen Ländern in engere Beziehungen getreten ist – zum Beispiel mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Marokko, Bahrain", sagt sie. Es seien auch Normalisierungsbemühungen mit Saudi-Arabien angestrebt worden.
"Doch all diese Bemühungen liefen ohne Einbeziehung der Palästinenser", betont die Expertin.
Die Hamas habe nun eine günstige Situation ausgenutzt: Seit Monaten befindet sich Israel in einer schwierigen innenpolitischen Lage, eine Justizreform spaltet das Land. "Seit Monaten ist die Gewalt im Westjordanland eskaliert. Sicherheitskräfte wurden vom Gaza-Streifen in die Westbank abgezogen", erinnert Gorawantschy.
Die Frage, die sich nun auch stelle, laute: "Was passiert mit Israel in diesem Kriegszustand? Geht Israel geeinter hervor oder werden sich die innergesellschaftlichen Spannungen verstärken?" Derzeit, so die Expertin, seien sich Opposition und Regierung im Vorgehen relativ einig. "Doch jetzt handelt es sich nur um eine temporäre Einheit, aber am Ende wird die Regierung zur Rechenschaft gezogen werden. Es wird in Israel zu einer Schulddebatte kommen, wie das alles überhaupt passieren konnte", ist sie sich sicher.
Zur Person:
- Beatrice Gorawantschy ist Leiterin der Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel.
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