Ihren markigen Ankündigungen nach der Vergiftung Alexej Nawalnys müssen NATO und EU wohl bald Taten folgen lassen - sonst fällt die Drohkulisse gegenüber Russland in sich zusammen. Zumal der Kreml sich nicht unter Zugzwang sieht.

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Die NATO betrachtet die Vergiftung des Kremlkritikers Alexej Nawalny als schweren Völkerrechtsbruch und verlangt von Russland die Zustimmung zu internationalen Ermittlungen. Äusserungen aus der Brüsseler NATO-Zentrale und seitens des EU-Ratspräsidenten am Freitag liessen jedoch erkennen, dass sowohl die Militärallianz als auch die Staaten der Europäischen Union noch um ein gemeinsames Vorgehen ringen. Die russische Seite scheint sich indes nicht unter Handlungsdruck zu sehen und eine Vergiftung Nawalnys nicht als erwiesen anzusehen.

Für Bundesregierung ist zweifelsfrei belegt, dass Nawalny vergiftet wurde

Die Bundesregierung hingegen betrachtet es nach Untersuchungen eines Speziallabors der Bundeswehr als zweifelsfrei belegt, dass Nawalny mit dem militärischen Nervengift Nowitschok vergiftet wurde. Der Oppositionspolitiker war am 20. August auf einem Flug in Russland plötzlich ins Koma gefallen und später auf Drängen seiner Familie in die Berliner Charité verlegt worden. Nach Angaben der Charité ist sein Gesundheitszustand weiter ernst.

"Die russische Regierung muss im Rahmen einer unparteiischen internationalen Untersuchung uneingeschränkt mit der Organisation für das Verbot chemischer Waffen zusammenarbeiten", forderte NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg nach ausserplanmässigen Beratungen mit den Botschaftern der Bündnisstaaten. "Die Verantwortlichen müssen zur Rechenschaft gezogen und vor Gericht gebracht werden." Die Tat sei nicht nur ein Angriff auf einen Einzelnen, sondern auch ein schwerer Verstoss gegen das Völkerrecht, der eine internationale Reaktion erfordere.

NATO sieht Parallelen zum Fall Skripal

Der Frage, ob die NATO wie im Fall Skripal Mitarbeitern der russischen NATO-Vertretung die Akkreditierung entziehen könnte, liess der Norweger offen. Es gebe wegen der Art des verwendeten Nervengifts Parallelen, sagte Stoltenberg. Zugleich unterschieden sich die Fälle aber auch - unter anderem, weil Nawalny als russischer Staatsbürger in Russland angegriffen worden sei.

Der Nervengiftanschlag auf den ehemaligen russischen Doppelagenten Sergej Skripal wurde hingegen 2018 in Grossbritannien und damit auf NATO-Territorium verübt. Das Bündnis liess damals sieben Mitarbeiter der russischen NATO-Vertretung ausweisen und die Maximalgrösse der russischen Delegation bei der NATO von 30 auf 20 Personen begrenzen.

Die Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) hatte am Donnerstag Hilfe bei der Aufklärung im Fall Nawalny angeboten. Nach der Chemiewaffenkonvention werde die Vergiftung eines Einzelnen mit einem Nervengas als Einsatz von Chemiewaffen bewertet, hiess es.

EU-Ratspräsident kündigt Debatte um Konsequenzen an

Nachdem die Europäische Union Russland am Donnerstagabend offen mit Sanktionen gedroht hatte, kündigte Ratspräsident Charles Michel am Freitag eine Debatte über Konsequenzen aus dem "Mordversuch" an. Nach den EU-Aussenministern würden sich damit womöglich auch die Staats- und Regierungschefs befassen, sagte er der Deutschen Presse-Agentur und anderen europäischen Nachrichtenagenturen in einem Interview. Schon die Tatsache, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel mit Unterstützung anderer EU-Politiker Nawalny sofort Hilfe gewährt habe, sei "ein starkes europäisches Statement" gewesen.

Auf die Frage nach einem möglichen Moratorium für die deutsch-russische Gaspipeline Nord Stream 2 wollte sich Michel am Freitag nicht äussern. Seine Aufgabe sei, sich erst mit den EU-Staaten zu beraten und anschliessend eine gemeinsame Linie vorzuschlagen.

Nord Stream 2 könnte zum Streitfall werden

Die Pipeline Nord Stream 2 soll Erdgas durch die Ostsee von Russland nach Deutschland transportieren. Auch die Bundesregierung lässt weiter offen, wie sie mit dem fast fertiggestellten Pipeline-Projekt umgehen will. Regierungssprecher Steffen Seibert wollte am Freitag eine frühere Aussage Merkels, der Fall Nawalny und die Zukunft von Nord Stream 2 müssten entkoppelt gesehen werden, ausdrücklich nicht wiederholen. Merkel hatte diese Aussage getätigt, bevor sie am Mittwoch öffentlich über den klaren Befund des Bundeswehrlabors und "versuchten Giftmord" an Nawalny informierte.

"Dass Oppositionelle und kritische Stimmen in Russland in Serie um ihre Gesundheit oder ihr Leben fürchten müssen, ist ohne Zweifel eine schwere Belastung für die Glaubwürdigkeit der russischen Führung und erschwert die Zusammenarbeit", sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Unrecht müsse klar benannt werden. "Und hier ist ein Verbrechen verübt worden, dessen Verantwortliche nur in Russland zu finden sein werden."

Kreml weist jegliche Verwicklung in den Fall zurück

Der Kreml weist eine Verwicklung in den Fall nach wie vor zurück und bewertet die Beweislage nicht so eindeutig wie die Bundesregierung. "Sollten sich die Informationen über giftige Substanzen in den Proben des Patienten bestätigen, dann besteht natürlich kein Zweifel daran, dass die Ermittlungen beginnen", sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow am Freitag der Agentur Interfax zufolge in Moskau. "In diesem Fall zählen wir auf den Dialog mit unseren deutschen Kollegen."

Die Berliner Justiz bestätigte am Freitag den Eingang eines Rechtshilfeersuchens der russischen Generalstaatsanwaltschaft. Die Polizei in Sibirien hatte zuvor nach eigenen Angaben "Vorermittlungen" eingeleitet. Sie will nicht näher spezifizierte Beweise sichergestellt und Überwachungskameras ausgewertet haben. Bislang fanden die russischen Ermittler nach eigener Darstellung aber keine Hinweise auf eine Vergiftung.

Peskow sagte, bei den "Vorermittlungen" handele es sich "de facto um Ermittlungsmassnahmen". Eine Beschwerde von Nawalnys Anwalt wies ein russisches Gericht am Freitag ab: Das Vorgehen der russischen Behörden sei nicht zu beanstanden, hiess es. (mgb/dpa)  © dpa

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