Die vorgezogene Neuwahl zur Nationalversammlung sorgt in Frankreich für erhebliche Unruhe: Erstmals könnten Rechtspopulisten Regierungsverantwortung bekommen.
Die vorgezogene Neuwahl zur Nationalversammlung in Frankreich könnte sich als grösste politische Zäsur seit der Gründung der aktuellen Republik erweisen. Erstmals könnten Rechtspopulisten auf nationaler Ebene Regierungsverantwortung erlangen. Als wahrscheinlich gilt aber auch, dass nach den Wahlen am Sonntag und am 7. Juli kein Lager eine regierungsfähige Mehrheit erhält und das Land in eine politische Dauerkrise schlingert. Ein Überblick:
Wahlsieg der Rechtspopulisten
Die rechtspopulistische Partei Rassemblement National (RN) liegt in Umfragen mit bis zu 36,5 Prozent vorn. Parteichef Jordan Bardella erhebt Anspruch auf das Amt des Premierministers, will es aber nur übernehmen, wenn er auf eine absolute Mehrheit kommt. Sollte dies der Fall sein, könnte Staatspräsident Emmanuel Macron politisch gezwungen sein, ihn zu ernennen. Damit würde Frankreich zum vierten Mal eine Kohabitation erleben, in der Präsident und Premierminister aus unterschiedlichen Lagern kommen. Allerdings ist der ideologische Abstand zwischen Macron und Bardella weit grösser als der zwischen früheren Paaren, etwa François Mitterrand und Jacques Chirac.
Im Wahlkampf stellte Bardella bereits die Machtbefugnisse des Präsidenten in der Aussen- und Sicherheitspolitik in Frage. Tatsächlich sind die Zuständigkeiten von Präsident und Premierminister in der französischen Verfassung nicht klar definiert. Konkret will Bardella etwa bei der Auswahl des französischen EU-Kommissars mitreden, die Entsendung französischer Militärausbilder in die Ukraine und die Lieferung von Langstreckenwaffen an die Ukraine verhindern.
Offen ist, wie Frankreich auf EU-Ebene auftreten würde. Traditionell ist der Sitz im Europäischen Rat dem französischen Präsidenten vorbehalten. Bei früheren Kohabitationen hatten der französische Präsident und Premierminister mehrfach gemeinsam an EU-Gipfeln teilgenommen. Wenn an den europäischen Ministertreffen euroskeptische RN-Minister teilnehmen sollten, dürfte dies den Einfluss Frankreichs in der EU erheblich schmälern.
Wahlsieg der links-grünen Neuen Volksfront
Das Bündnis aus Linkspopulisten, Sozialisten, Kommunisten und Grünen ist eine Neuauflage des früheren Bündnisses namens Nupes. Es brach auseinander, nachdem die Linkspopulisten es nach dem Überfall der radikalislamischen Hamas auf Israel am 7. Oktober abgelehnt hatten, diese als terroristisch einzustufen. Die nun antretende Neue Volksfront, die in Umfragen bei bis zu 29 Prozent liegt, einigte sich überraschend schnell auf ein gemeinsames Programm und gemeinsame Kandidaten. Diese Einigung machte Macrons Pläne zunichte, dass seine Kandidaten in der zweiten Runde gegen RN-Kandidaten antreten und gewinnen würden.
Allerdings konnte das links-grüne Wahlbündnis sich nicht darauf verständigen, wen sie im Fall eines Wahlsiegs als Premierminister vorschlagen wollen. Der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon, der Interesse äusserte, stiess bei den anderen Parteien auf heftige Ablehnung.
Das Regierungsprogramm, das Steuererhöhungen, gedeckelte Preise und die Rücknahme der Rentenreform vorsieht, enthält zudem mögliche interne Konfliktpunkte. So ist etwa die bei einem Teil der Linken umstrittene Atomkraft im Programm gar nicht erwähnt.
Geschäftsführende Regierung
Wenn weder die Rechtspopulisten noch die links-grüne Neue Volksfront eine Mehrheit erreichen, könnte Macron versuchen, noch eine Weile an der amtierenden Regierung festzuhalten - etwa bis nach dem Nato-Gipfel oder bis nach den Olympischen Spielen. Der Rücktritt der Regierung wird nach der Neuwahl zwar erwartet, ist aber nicht vorgeschrieben. Mehrere Minister haben bereits erkennen lassen, dass sie ihr Amt möglichst schnell abgeben möchten.
Macron könnte aber auch eine Regierungsmannschaft aus parteilosen Technokraten ernennen, was für Frankreich politisches Neuland wäre. Es wäre allerdings nicht das erste Mal, wenn er einen weitgehend unbekannten Politiker zum Premierminister macht: Jean Castex etwa war vor seiner Zeit als Premierminister Bürgermeister eines Pyrenäen-Ortes. Macron könnte dann versuchen, mit wechselnden Partnern Mehrheiten für einzelne Vorhaben zu erreichen.
Rücktritt des Präsidenten
Macron ist von der Neuwahl nicht betroffen, er ist bis 2027 gewählt und hat mehrfach betont, dass er nicht an einen Rücktritt denkt. Die frühere RN-Parteichefin Marine Le Pen, die ihn 2027 beerben will, bringt die Möglichkeit seines Rücktritts jedoch hartnäckig immer wieder ins Gespräch.
Macron, der 2027 nicht wieder antreten kann, hat es bislang vermieden, einen möglichen Nachfolger aufzubauen. Mehrere ehemalige Verbündete nutzten den kurzen Parlamentswahlkampf nun für eigene Zwecke: Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, Innenminister Gérald Darmanin und Ex-Premierminister Edouard Philippe gingen erkennbar auf Distanz zu Macron.
Aber vermutlich wäre niemand so gut vorbereitet auf eine Präsidentenwahl wie Le Pen, die bereits drei Präsidentschaftswahlkämpfe hinter sich hat. Sollte Macron ihr eines Tages die Amtsgeschäfte übertragen müssen, wäre seine Präsidentschaft gründlich gescheitert: Schliesslich war er mit dem Ziel angetreten, die Rechtspopulisten in Frankreich von der Macht fernzuhalten. (AFP/spl) © AFP
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