Die Niederlande wollen die strengste Asylpolitik Europas umsetzen. Warum treibt das Thema das angeblich so weltoffene Volk seit 30 Jahren um? Und welche Lehren lassen sich für die Debatte in Deutschland ziehen? Blick auf ein Land, das viele nicht mehr wiedererkennen.

Eine Analyse
Dieser Text enthält eine Einordnung aktueller Ereignisse, in die neben Daten und Fakten auch die Einschätzungen von Fabian Busch sowie ggf. von Expertinnen oder Experten einfliessen. Informieren Sie sich über die verschiedenen journalistischen Textarten.

1993 gab es in den Niederlanden eine brisante Postkarten-Aktion. Karten mit der Aufschrift "Ik ben woedend" (Ich bin wütend) lagen im Land aus. Die Niederländer sollten sie an einen Radiosender schicken, der insgesamt 1,2 Millionen Karten sammelte und sie dann an den eigentlichen Adressaten übergab: Deutschlands Bundeskanzler Helmut Kohl.

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Der Grund: Die Niederländer waren wütend auf das Nachbarland, das sich in dieser Zeit von einer hässlichen Seite zeigte. In mehreren deutschen Städten waren Asylbewerber bei Anschlägen gestorben. Das wollten die Nachbarn nicht einfach hinnehmen.

Niederlande wollen für Asylsuchende "so unattraktiv wie möglich werden"

Es ist interessant, wie sich die Rollen seitdem gewandelt haben. Die deutsche Politik will Flucht und Migration ins Land zwar deutlich begrenzen, trotzdem hat sich Deutschland seit der grossen Fluchtbewegung 2015/16 einen weltoffenen Ruf erarbeitet. Und die Niederlande? Dort gehen zwar keine Asylbewerberheime in Flammen auf. Doch die Postkartenaktion von 1993 wäre dort heute kaum noch denkbar.

Geert Wilders ist fast am Ziel. Ministerpräsident ist der selbsternannte Islam-Hasser zwar noch nicht geworden. Seine extrem rechte Freiheitspartei PVV gibt als grösste Partei aber seit kurzem den Ton in der rechtsgerichteten niederländischen Regierung an.

Geert Wilders bestimmt massgeblich die Migrationspolitik der Niederlande. © dpa/ANP/Phil Nijhuis

Die von Wilders ins Kabinett geschickte Asylministerin Marjolein Faber will seinen markigen Worten Taten folgen lassen. Die Regierung will einen Notstand erklären und damit europäische Asylregeln ausser Kraft setzen. "Wir ergreifen Massnahmen, um die Niederlande für Asylsuchende so unattraktiv wie möglich zu machen", hat Faber vor kurzem angekündigt.

Immer noch reiben sich viele Menschen in Europa die Augen, wenn sie in die Niederlande schauen. Stand das Land nicht immer für Gelassenheit, Toleranz und Weltläufigkeit – mit seiner liberalen Drogengesetzgebung, seinem riesigen Hafen, den fröhlichen Fussballfans und reiselustigen Weltentdeckern?

Die Stimmung schlug schon in den 90er-Jahren um

Das Bild der toleranten Niederlande sei ein Erbe der 60er- und 70er-Jahre, sagt der Historiker Leo Lucassen, Professor für globale Arbeits- und Migrationsgeschichte an der Universität Leiden. In ganz Europa stellten Protestbewegungen damals Traditionen infrage und setzten sich für eine Liberalisierung der Gesellschaft ein – in den Niederlanden besonders eifrig und erfolgreich.

Diese Periode sei auch von einem "Migrationsoptimismus" gekennzeichnet gewesen, sagt Lucassen. Dass jeder dort nach seiner eigenen Façon glücklich werden und Geschäfte machen konnte, war über Jahrhunderte auch ein Geschäftsgeheimnis der Niederlande.

Doch schon in den 90er-Jahren schlug diese Stimmung um. In manchen Grossstadtvierteln waren Parallelgesellschaften entstanden, weil die Integrationspolitik lange auf dem Grundsatz beruhte: Jede gesellschaftliche Gruppe kann ihr eigenes Ding machen. Die Terroranschläge des 11. September 2001 in den USA, die Ermordungen des rechtspopulistischen Politikers Pim Fortuyn und des Filmemachers Theo van Gogh sorgten für zusätzliche Verunsicherung.

"Damit begann eine Zeit des Migrationspessimismus – und in der befinden wir uns immer noch", sagt Leo Lucassen.

Eigentlich ein ordnungsliebendes Volk

Der FDP-Bundestagsabgeordnete Otto Fricke kennt das Nachbarland gut und lange. "Die Niederländer sind viel ordnungsliebender, als sie manchmal zugeben", sagt der Vorsitzende der deutsch-niederländischen Parlamentariergruppe. Auch er macht einen Umschwung ab den 90er-Jahren aus.

"Es gab unterschiedliche Gruppen, die diese Toleranz für den eigenen Vorteil und zum Nachteil anderer ausgenutzt haben."

Otto Fricke, Bundestagsabgeordneter

"Verletzungen von Regeln wurden lange zu sehr toleriert. Diese Toleranz ist in grossen Teilen der Bevölkerung inzwischen stark vermindert", sagt Fricke. "Es gab unterschiedliche Gruppen, die diese Toleranz für den eigenen Vorteil und zum Nachteil anderer ausgenutzt haben. Zum Beispiel die organisierte Kriminalität."

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Fricke ist überzeugt: Was in den Niederlanden passiert, passiert mit Verspätung oft auch in Deutschland. Deshalb ist der Blick ins Nachbarland für ihn als Politiker lohnend. Im Falle der Niederlande schliesst er daraus, dass die Politik Probleme mit Migration und Integration ernst nehmen muss. In den Niederlanden habe man diese lange abgestritten, "obwohl viele Bürgerinnen und Bürger diese Probleme angesprochen haben".

Eine Sündenbock-Taktik

Allerdings reden die Niederlande nun schon lange und zum Teil aufgeheizt über diese Themen. Angefangen haben damit Parteien des rechten Rands. Dann hat unter anderem die konservativ-liberale Partei VVD des früheren Ministerpräsidenten Mark Rutte ähnliche Töne angeschlagen. "Das hat ihnen zunächst Stimmen gebracht, andere sind dann auf den Kurs eingeschwenkt. Die Erzählung von der gescheiterten Integration haben bei uns auch die linken Parteien übernommen", sagt Historiker Lucassen.

Dabei würden viele Menschen in Umfragen durchaus positiv über den Verlauf der Integration urteilen. "Viele Kinder von Migranten und Flüchtlingen haben sich gut integriert."

Aus Lucassens Sicht versuchen die Parteien, Asylbewerbern und Migranten die Schuld für allerlei Missstände zuzuschieben. Zum Beispiel für die Wohnungsnot. Verschiedene Regierungen haben Sozialwohnungen auf den freien Markt geworfen oder Wohnungsbaugesellschaften steuerlich belastet. Wohnraum wurde dadurch deutlich teurer. "Es ist dann für die Politik einfacher, das Problem den Asylbewerbern in die Schuhe zu schieben, als zu sagen: Da haben wir einen Fehler gemacht", sagt Lucassen.

Er spricht von einer "Sündenbock-Taktik". Kurzfristig lassen sich damit Stimmen gewinnen. Langfristig profitierten davon aber der "Problembesitzer", nämlich rechte Parteien. 2023 liess die liberale VVD sogar die Koalition platzen, weil sie eine strengere Asylpolitik wollte. Die Neuwahl gewann dann aber die Partei von Geert Wilders – die VVD ist nur noch sein kleinerer Koalitionspartner.

Lucassen schaut mit Sorge auf die neue Regierung. In der Praxis werde sich in der Migrationspolitik zwar nicht viel verändern, glaubt er. "Noch finsterer als jetzt kann sie kaum noch werden." Aber diese Politik schüre die negative Stimmung gegenüber Flüchtlingen und befördere ihre Stigmatisierung. "Die Regierung will abgelehnten Asylbewerbern keine Mindestversorgung mehr bezahlen. Das wird das Elend dieser Menschen noch vergrössern, das kann sie in die Kriminalität treiben – und das alles wird die Diskussionen über das Thema weiter anheizen."

Die Niederländer bleiben auch Kaufleute

Der Bundestagsabgeordnete Otto Fricke sieht die Sache etwas anders. Er glaubt, dass im Nachbarland zwar viel geredet, aber wenig gehandelt wurde. "Viele niederländische Parteien haben zwar das Thema Migration aufgegriffen, wirklich passiert ist dann aber nach Ansicht vieler Wähler zu wenig."

Offen ist noch, ob die niederländische Regierung ihre harte Linie wirklich durchsetzen kann. Im Land selbst glauben viele Beobachter nicht, dass das Bündnis lange hält. Ausserdem braucht auch die niederländische Wirtschaft dringend Fachkräfte – und viele Betriebe sind auf einen gut funktionierenden Handel mit dem Ausland angewiesen.

Ein Beispiel dafür sind die Grenzkontrollen. Deutschland lässt an den Grenzen zu den Niederlanden inzwischen wieder kontrollieren. Die Regierung in Den Haag hat das zunächst hingenommen, weil sie ähnlich vorgehen will. Doch die Wirtschaft ist skeptisch. "Die Unternehmen sagen vereinfacht: Wenn es an den Grenzen zu nicht mehr als 15 Minuten Verspätung kommt, ist das vertretbar – aber darüber hinaus wird es zu kostspielig", erzählt Otto Fricke. "Das ist der kaufmännische Gedanke, der ist in den Niederlanden weit stärker ausgeprägt als bei uns. Und der führt am Ende sehr oft zu pragmatischen Lösungen."

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