Im zweiten Teil des Exklusiv-Interviews gibt Norbert Röttgen seine Einschätzung zur Wahl des US-Präsidenten und die Folgen für Deutschland und Europa zum Besten. Ausserdem erklärt er, warum Sanktionen gegen Einzelpersonen im Fall Nawalny nur der Anfang sein können, wie er die Beziehung zwischen der EU und der Türkei sieht und wie innenpolitisch seine Konzepte zur Mobilität und Vereinbarkeit von Beruf und Erziehung aussehen.
Herr
Wie könnte diese Antwort konkret aussehen?
Nach meiner Einschätzung ist das Projekt Nord Stream 2 dabei der Dreh und Angelpunkt, weil es sich hierbei nicht um ein wirtschaftliches Projekt handelt. Es hat nichts mit der Erdgas-Versorgung Deutschlands zu tun. Es ist noch nicht einmal für Gazprom ein rentables Geschäft, sondern ein machtpolitisches, das darauf abzielt, die Ukraine von der Erdgas-Versorgung Russlands abzuschneiden, um dann die ganze Ukraine politisch destabilisieren zu können. Sich über die Politik Putins zu empören und dann in etwa einem halben Jahr die Fertigstellung dieser Pipeline zu feiern, wäre schlicht und ergreifend widersprüchlich. Putin würde uns dann – zu Recht – nicht mehr ernst nehmen.
Röttgen: "EU muss Antwort geben, die Putin auch versteht"
Ein Stopp von Nord Stream 2 ist aber nicht in Sicht …
Wenn jemand andere Ansatzpunkte findet, bin ich dafür offen. Aber es muss ein Punkt sein, der klarmacht: Wir Europäer treten diesem politischen Handlungsmuster entgegen, und zwar in einer Sprache, die Wladimir Putin versteht. Das ist der Massstab. Wenn wir ihn erfüllen, entsteht eine gemeinsame europäische Russlandpolitik. Wenn wir ihn nicht erfüllen, werden wir ein weiteres Beispiel produzieren, dass Europa nicht ernst genommen werden muss, weil wir uns selber nicht ernst nehmen.
Zu Zeiten des Kalten Krieges waren die internationalen Frontlinien klar sichtbar. Heutzutage ist das Bild der Weltmächte diffuser. In welche Richtung sollte sich Deutschland orientieren?
Das Allerwichtigste für die deutsche Aussenpolitik in dieser chaotischen Weltlage ist, dass wir unseren Beitrag zur Einheit und Handlungsfähigkeit Europas leisten. Das ist für uns existenziell, das A und O unserer Selbstbehauptung. Wenn wir im Innern zerfallen, weil jeder nur noch nach seinen nationalen Interessen guckt, und wenn wir nicht nach aussen anfangen gemeinsam zu handeln, dann werden wir zerrieben zwischen den Interessen der Grossmächte und bedeutungslos werden.
China, Russland oder die USA – wer ist die grössere Bedrohung für Deutschland beziehungsweise Europa?
Das kann man nicht einfach in einen Topf schmeissen. Die USA sind bei allen Differenzen, die wir mit ihrem gegenwärtigen Präsidenten haben, eine Demokratie, ein Rechtsstaat und eine freie Gesellschaft. Wir sollten da eher nach dem Zustand dieser Partnerschaft fragen und dieser Zustand ist im Moment nicht gut. Wir müssen ihn dringend verbessern, denn die Demokratien müssen in der gegenwärtigen Weltlage noch mehr zusammenhalten, um demokratische Werte zu verteidigen.
Und unser Verhältnis zu Russland und China?
Russland und China sind autoritäre Staaten, die beide Demokratie unterdrücken, aber sie sind ansonsten natürlich sehr unterschiedlich. Das grösste Problem Russlands ist, dass die wirtschaftliche Modernisierung dort nicht stattfindet, weil das die politische Macht bedrohen würde. Und das Besondere an der Herausforderung durch China ist, dass sich seine wirtschaftliche Modernisierung und der enorme und eindrucksvolle technologische Fortschritt dort verbinden mit zunehmendem aussenpolitischen Selbstbewusstsein und dem Versuch, seine Macht auszudehnen und anderen aufzuzwingen. Das sind ganz unterschiedliche Situationen, auf die wir Antworten finden müssen für ein möglichst konstruktives Verhältnis.
"Ein Präsident Biden würde den Ball zu uns rüber schiessen"
Was ist besser für Deutschland: wenn
Wir haben das zu respektieren, was die amerikanischen Wähler entscheiden. Trotzdem kann man Prognosen anstellen, was passiert, wenn die Wahl zugunsten Donald Trumps ausgeht. Dann ist meine Prognose, dass wir nicht nur "more of the same" erleben werden, also mehr vom Selben, sondern wir werden eine Steigerung all dessen sehen, was wir bislang schon erlebt haben. Wir haben dann einen Präsidenten Trump, der nicht mehr wiedergewählt werden kann und muss und darum gewissermassen völlig schrankenlos seine Persönlichkeit entfalten kann und wird. Das muss man wissen.
Und wenn Biden gewinnt?
Wenn Joe Biden gewählt wird, können wir sicher davon ausgehen, dass wir wieder einen vernünftigen Umgang miteinander finden. Aber genauso klar ist, dass nicht irgendeine alte Zeit zurückkehrt. Biden wird sich als Präsident vor allen Dingen dem eigenen Land zuwenden müssen, den wirtschaftlichen Problemen, den Spaltungen, dem Hass, der Aggression. Auch ein Präsident Biden wird sich auf China fokussieren und den indo-pazifischen Raum. Und er wird den Deutschen und den Europäern sagen: Wir wollen euch als Partner, nicht als Befehlsempfänger. Aber ihr müsst auch wirklich für uns Partner sein und selber substantielle Beiträge erbringen. Und vor allen Dingen euch um eure Region, euer Europa und seine östliche und südliche Nachbarschaft viel mehr selber kümmern. Er wird den Ball zu uns rüber schiessen. Und dann ist die Frage: Spielen wir mit oder schiessen wir den Ball ins Aus? Ich finde, wir sollten mitspielen.
Europa hat unter anderem ein Flüchtlingsproblem. Dank eines Deals mit der Türkei kommen derzeit nur relativ wenige Geflüchtete nach Europa. Wie sehen Sie das Gebaren des türkischen Machthabers Recep Tayyip Erdogan?
Er hat die Wertebeziehungen zu uns abgebrochen, indem er Demokratie und Rechtsstaat im eigenen Land beschneidet und unterdrückt. Auf der anderen Seite ist trotzdem eine Interessenbeziehung wechselseitiger Art zwischen der EU und der Türkei geblieben. Die Türkei braucht die EU wirtschaftlich unbedingt, und für die EU ist es alles andere als egal, wie das regionale Verhalten der Türkei im Mittleren und Nahen Osten und in der zentralasiatischen Region ist.
Das bedeutet?
Dass wir uns jetzt im Rahmen dieser leider nur noch bestehenden Interessenbeziehung nüchtern mit der Türkei beschäftigen und auseinandersetzen müssen und dabei versuchen, wechselseitige Interessen zu berücksichtigen.
Betrifft das auch die Flüchtlingspolitik?
Ja, die zählt dazu, ist aber keine einseitige. Manche sagen ja, wir seien in Abhängigkeit von der Türkei. Das ist nicht der Fall. Es ist eine wechselseitige Beziehung. Und die Türkei ist auf Europa aus wirtschaftlichen Gründen zwingend angewiesen.
Röttgen: Deutsche Autoindustrie hat Elektro-Trend ignoriert
Sollten Sie neuer CDU-Chef werden – und vielleicht auch Kanzlerkandidat –, dann werden aussenpolitische Positionen nicht reichen. Die Bevölkerung beschäftigen die innenpolitischen Probleme meistens stärker. Wie sieht zum Beispiel Ihr Konzept der künftigen Mobilität aus - in der Grossstadt, aber auch auf dem Land?
Durch die Digitalisierung unserer Kommunikation haben ländliche Gegenden eine enorme Chance, weil es auf den Ort der Arbeit nicht mehr ankommt. Ich muss also nicht in der Grossstadt sitzen, sondern es ist eigentlich egal, wo ich sitze. Das ist eine grosse Chance, um zum einen Städte zu entlasten, aber auch für gleichwertige Lebensverhältnisse in unserem Land zu sorgen. Diese Chance müssen wir wirklich nutzen. Das hat zum einen etwas mit Breitbandausbau zu tun, also mit der digitalen Infrastruktur, die dafür erforderlich ist. Aber auch die Verkehrsinfrastruktur ist wichtig. Denn nur wenn dort, wo ich arbeite, auch eine Verkehrsanknüpfung zu Städten und Zentren besteht, ist das ein attraktiver Ort des Lebens.
Was ist mit Bus und Bahn?
Eine strategische Rolle kommt auch dem öffentlichen Personennahverkehr zu. Den zu stärken, zu intensivieren, kundenfreundlicher zu machen, halte ich für extrem wichtig. Hier gibt es Möglichkeiten, das ohne Verbrennungsmotoren zu tun. Die Elektrifizierung der Flotten des Personennahverkehrs ist absolut machbar und hilft dabei, unsere Klimaziele zu erreichen – ein ganz wichtiger Punkt.
Hat Deutschland zu lange an Verbrennungsmotoren festgehalten?
Das war schon ein Diskussionsthema vor zehn Jahren, als ich noch Umweltminister war. Auch mit der Industrie, die vor zehn Jahren darauf gesetzt hat, alles aus dem Verbrennungsmotor herauszuholen, anstatt mit Macht auf neue Technologien zu setzen. Auch die waren damals sowohl technologisch wie in ihrer Notwendigkeit schon absehbar. Darum hängen wir zurück, gar keine Frage.
Und nun?
Wenn man zurückhängt, muss man schneller laufen. Trotzdem müssen wir technologieoffen bleiben, weil es ein Gebot der Klugheit ist, auf den Wettbewerb von Technologien zu setzen, anstatt diesen durch politische Vorgaben zu beeinträchtigen oder zu beschränken. Wir müssen jetzt eben zügiger und viel schneller zu diesem technologischen Umstieg kommen, als es möglich gewesen wäre, wenn wir früher damit angefangen hätten. Aber an der Notwendigkeit und der Möglichkeit hat sich nichts geändert.
"Homeoffice lässt sich nicht per Gesetz durchsetzen"
Kommen wir zum nächsten Problemfeld: Warum fehlen in Deutschland mehr als 340.000 Kitaplätze? Wie können wir Beruf und Erziehung besser vereinbaren?
Für mich ist das mit die wichtigste gesellschaftspolitische Herausforderung, unter ganz unterschiedlichen Gesichtspunkten. Erstens was die Ermöglichung selbstbestimmter Lebensentwürfe von Frauen und Männern betrifft, aber genauso, was den wirtschaftlichen Bedarf nach qualifizierten Arbeitsplätzen anbelangt. Die Zahl der Arbeitskräfte in Deutschland wird demografisch bedingt weiter zurückgehen. Darum brauchen wir die Qualifikation der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und die Verträglichkeit mit ihren privaten Lebensentscheidungen.
Wie soll das gehen ohne deutlich mehr Kitaplätze – und wer soll die bezahlen?
Es ist ganz klar, dass wir mehr Kitaplätze brauchen oder eben Plätze bei Tageseltern. Dafür benötigen wir mehr Erzieherinnen und Erzieher, ohne die es nicht geht. Der Beruf muss attraktiver werden. Das geht über gesellschaftliche Anerkennung und Entlohnung.
Wer zahlt das?
Kinderbetreuung ist eine gesamtstaatliche Verantwortung. Gleichzeitig müssen wir klarmachen, dass wir ein föderales Land sind, in dem die Steuern zwischen Bund und Ländern verteilt werden. Und zwar aktuell so, dass die Länder etwas mehr bekommen von dem Kuchen als der Bund. Am Ende werden dann aber alle Aufgaben immer nur vom Bund finanziert. Das ist der Trend der letzten Jahre, aber so können wir nicht weiter die Finanzbeziehungen zwischen Bund und Ländern gestalten. Die kommunalen Finanzen sind im Kern eben eine Landesaufgabe.
Der Bund steht also nicht in der Verantwortung?
Doch. Der Bund engagiert sich ja enorm in vielen Bereichen. Die Bundesgesetzgebung ist wichtig, damit die Vereinbarkeit verbessert werden kann. Zum Beispiel haben wir ein veraltetes Arbeitsstättenrecht, das Anforderungen an Homeoffice-Gestaltung stellt, die den heutigen Bedürfnissen nicht mehr gerecht werden.
Arbeitsminister Heil arbeitet gerade am "Recht auf Homeoffice"...
Es ist falsch zu versuchen, das mit einem Rechtsanspruch gegen den Arbeitgeber durchzusetzen, weil es bürokratisch und kompliziert ist. Die Arbeitgeber haben ja wie die Arbeitnehmer selber ein Interesse daran, flexible Lösungen zu finden. Und wenn wir eine Modernisierung der Rahmenbedingungen schaffen, dann wird man auch auf Betriebsebene zwischen den Betriebspartnern zu Lösungen kommen.
Hier geht's zum ersten Teil des Interviews mit Norbert Röttgen!
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