Angela Merkel zittert bei der Nationalhymne - und niemand scheint zu helfen. Dieses Bild der Kanzlerin hat sich eingeprägt. Mit dem strengen Protokoll bei Staatsbesuchen hat das aber nichts zu tun. Im Gegenteil.

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In diesen Tagen, in denen die halbe Welt über den Gesundheitszustand der Bundeskanzlerin rätselt, erregt selbst ein simpler Kniff Aufsehen: Als am vergangenen Donnerstag die dänische Premierministerin Mette Frederiksen zum Antrittsbesuch nach Berlin reiste, verfolgten Angela Merkel und die Sozialdemokratin die obligatorische militärische Begrüssung im Sitzen, auf weissen Stühlen, eigens herbeigeschafft aus dem Bankettsaal des Bundeskanzleramts.

Auch beim Empfang der moldauischen Ministerpräsidentin Maia Sandu am Dienstag sass die Kanzlerin, während die Nationalhymne gespielt wurde. Der Kanzlerin half die ungewöhnliche Massnahme offenbar - keine Spur vom Zittern, das sie in den vergangenen Wochen dreimal erfasst hatte.

Eine "Abweichung vom Protokoll" hatte das "Handelsblatt" nach dem Besuch von Frederiksen vermeldet. "Die Kanzlerin bricht mit dem Protokoll", berichtete die Deutsche Presseagentur, die Wiener "Presse" sah Merkel sogar das Protokoll "überlisten". Dabei dürfte nichts der gewissenhaften Bundeskanzlerin ferner liegen.

Tatsächlich wurde das Protokoll schon im Vorfeld angepasst, um der Kanzlerin bei der Überwindung ihrer Zitteranfälle zu helfen, die sie stets im Stehen überkamen. Alles lief also nach einem - geänderten - Plan. Und auch der liesse sich verändern, wenn die Kanzlerin oder ein Staatsgast bei einem Besuch wirklich ernsthaft in Gefahr geraten würden, erzählt Werner Schempp, 16 Jahre im Protokoll der Landesregierung des Landes Baden-Württemberg, erst als Referent, dann als Chef.

Im Gespräch mit unserer Redaktion macht der Ministerialdirigent a.D. die Grenzen der starren Regeln in der Besuchsdiplomatie deutlich: "Wenn jemand gesundheitliche Probleme hat, hört das Protokoll auf. Dann wird geholfen."

Für den Notfall ist vorgesorgt

Schempp hat allein 20 hochrangige Staatsbesuche organisiert, den Dalai Lama in Stuttgart begrüsst und insgesamt fünf Ministerpräsidenten gedient, zuletzt bis zu seiner Pensionierung 2017 Winfried Kretschmann. "Ich hatte meinen Chef immer im Auge, man passt auf wie auf ein Kind am Spielplatz", sagt er zu seiner Rolle.

Mitunter müssten die Mitarbeiter des Protokolls die Politiker auch schon mal vor brüchigen Stufen warnen, wenn sie ein altes Schloss besuchen, auch das gehört zum Job.

Angela Merkel allerdings, so wirkte es zumindest bei ihrem ersten Zitteranfall Mitte Juni beim Besuch von Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyi, schien völlig allein dazustehen. Warum griff niemand ein, obwohl die Anwesenden sichtlich irritiert in Merkels Richtung schauten?

"Ich war ja nicht dabei", sagt Werner Schempp, "aber ich nehme an, dass es sich einfach von selbst erledigt hat." Für den absoluten Notfall ist stets ein Arzt anwesend, der ohne Rücksicht auf das Protokoll eingreifen kann. Abhängig von der Sicherheitsstufe begleiten medizinische Fahrzeuge auch den offiziellen Konvoi bei Staatsbesuchen, die medizinischen Bulletins der Politiker sind bekannt.

Schempp erinnert sich an einen Besuch von Michail Gorbatschow in Stuttgart - alle vier Krankenhäuser entlang der Route vom Flughafen in die Innenstadt hatten einen OP-Saal in Bereitschaft versetzt, zum Einsatz kamen die Ärzte aber nicht.

Jeder Schritt ist festgelegt

Werner Schempp stand dem Protokoll in Baden-Württemberg vor, auch der Bundestag und der Bundespräsident verfügen über eigene Protokollchefs. Für Auslandsreisen der Bundeskanzlerin wie für Besuche in Berlin ist vor allem die Abteilung 7 im Auswärtigen Amt zuständig, in der über 100 Mitarbeiter arbeiten.

Bereiten sie grosse Staatsbesuche vor, wie von der Queen oder des amerikanischen Präsidenten, kann das schon mal Monate dauern, schliesslich will jeder Schritt genau durchdacht werden. "Sie müssen sich das vorstellen wie ein Drehbuch für einen Film", sagt Schempp.

Wer überreicht wann das Gastgeschenk, über welchen Eingang schreiten die Politiker zur Abendunterhaltung in der Staatsoper, welche Getränke werden gereicht - all das legt der Ablauf fest. Generell, erzählt Schempp, sei das Protokoll etwas "schlanker" geworden, weil die beschleunigte Besuchsdiplomatie wenig Zeit lässt. Blieben ausländische Gäste früher mindestens zwei Tage, reisen sie heute morgens an und fliegen abends schon wieder nach Hause.

"Protokoll ist, wenn’s klappt"

Auch wenn alles reglementiert und genau festgelegt ist - in der Erarbeitung des Protokolls haben die Mitarbeiter durchaus Spielraum. Das ermöglicht durchaus spontane Abweichungen von den Gepflogenheiten, wie das Bereitstellen von Stühlen für Angela Merkel und Mette Frederiksen, die vorher eingeweiht war.

"Der protokollarische Ablauf der militärischen Ehren war den dänischen Gästen selbstverständlich im Vorfeld bekannt gewesen", erklärte eine Regierungssprecherin auf Anfrage unserer Redaktion.

Schempps Kollege Martin Löer, ehemaliger Protokollchef des deutschen Bundespräsidenten, brachte die Flexibilität des Protokolls mal auf den einfachen Satz: "Protokoll ist, wenn's klappt." Und das hat es für Werner Schempp in diesem Fall ohne Frage, auch wenn die Kanzlerin und Frederiksen auf den Stühlen ein ungewohntes Bild abgaben.

"Bei den Stühlen war die Augenhöhe wichtig. Schlecht wäre es gewesen, wenn Frau Frederiksen gestanden hätte. Aber so etwas spricht man ab - Protokoll ist eben Absprache."

Verwendete Quellen:

  • Gespräch mit dem Presse- und Informationsamt der Deutschen Bundesregierung
  • Gespräch mit Werner Schempp
  • "Protokoll" auf der Internetseite des Auswärtigen Amtes
  • Jelinski, Olaf: Das internationale diplomatische Protokoll im Vergleich zum Protokoll in Unternehmen.Eine Analyse des Protokolls als politische Institution. Dissertation, Greifswald 2014.
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