Mehr als 70 Jahre sind die Verbrechen der Nationalsozialisten her, doch erst jetzt stehen frühere Gehilfen wie Oskar Gröning vor Gericht – 93 Jahre ist der ehemalige SS-Mann inzwischen alt. Warum dauerte es so lange, bis NS-Helfer endlich angeklagt werden?
John Demjanjuk und Oskar Gröning – es sind zwei Namen ehemaliger NS-Helfer, deren frühere Taten auch noch im hohen Alter vor Gericht gebracht wurden. 2011 verurteilte das Landgericht München den damals 91-jährigen Demjanjuk zu fünf Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord in fast 30.000 Fällen im Vernichtungslager Sobibor. Und dieser Tage ist der 93-jährige Gröning in Lüneburg angeklagt – ebenfalls wegen Beihilfe zum Mord, hier in rund 300.000 Fällen im Konzentrationslager Auschwitz. Bereits in seiner ersten Vernehmung legte er ein Geständnis ab.
Mehr als 70 Jahre sind seit den Gräueltaten der Nationalsozialisten und der systematischen Vergasung von Millionen von Juden vergangen. Nicht wenige fragen sich deshalb: Warum erst jetzt? Warum dauerte es bei Demjanjuk und Gröning so lange, bis diese Fälle endlich vor Gericht landeten? Hätte es nicht schon viel früher zum Prozess kommen müssen? Immerhin wurde 1985 schon einmal gegen Gröning ermittelt, das Verfahren jedoch eingestellt.
Staatsanwaltschaften verschonten jahrelang die Gehilfen
Die Antworten auf diese Fragen sind in der deutschen Rechtauffassung zu finden, wie sie seit Jahrzehnten bestanden hatte – und sich erst vor wenigen Jahren änderte. An diesem Umbruch war massgeblich die Zentrale Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg beteiligt – eine Vorermittlungsbehörde, die 1958 von den Landesjustizverwaltungen aller Bundesländer gegründet wurde und seitdem Informationen gegen NS-Verbrecher für die Staatsanwaltschaft sammelt.
Kurt Schrimm leitet die Behörde und erklärt die heutige, neue Grundlage für Prozesse so: "Für uns reicht die Tätigkeit eines Aufsehers in diesem Lager für die Annahme von Beihilfe zum Mord aus, ohne dass der betreffenden Person eine unmittelbare Beteiligung an einem konkreten Tötungsdelikt nachgewiesen werden muss." Als Schrimms Behörde diese Einschätzung gibt, hat sie Gewicht: Im Fall Demjanjuk übernehmen Staatsanwaltschaft und das Landgericht München II diese Ansicht und stützen den Prozess darauf.
Der Schritt kam einer Zäsur gleich. Zum ersten Mal wurde damit der Straftatbestand der Beihilfe zum Mord in Vernichtungslagern neu bewertet. Bis dahin hatte stets gegolten: Nur wer sich direkt an den Morden in den Lagern beteiligt hatte, wurde dafür auch belangt. "In den 60er Jahren gab es eine Art stillschweigenden Konsens unter den Staatsanwaltschaften. Demnach wurden Gehilfen, denen keine konkrete Tötung nachgewiesen werden konnte, auch nicht weiter verfolgt", erklärt Thomas Will, der stellvertretende Leiter der Zentralen Stelle, im Gespräch mit unserem Portal.
Schwere Verbrechen wurden dabei mitunter nur als politische Taten gesehen, ein blosses "Handeln auf Befehl" festgestellt oder nur wenige Täter angeklagt – all das liess zahlreiche Haupttäter ungeschoren davonkommen. "Wir kritisieren die jahrzehntelange Untätigkeit der deutschen Justiz und ihr Desinteresse, Gerechtigkeit herzustellen", sagte Christoph Heubner vom Internationalen Auschwitz Komitee, einem Zusammenschluss von Auschwitz-Überlebenden und ihren Organisationen, erst am Montag vor dem Prozess in Lüneburg.
"Scheuklappen abnehmen und neu bewerten"
Auf dieses Versäumnis reagierte schliesslich auch die Zentrale Stelle. "Es war an der Zeit, die Scheuklappen abzunehmen und neu zu bewerten, dass es hier um Straftaten geht", sagt Will. Doch eine Hürde war offensichtlich: Wie sollte man den Handlangern der Nazis konkrete Taten nachweisen, um sie dafür bestrafen zu können? "Auschwitz-Birkenau war ein riesiges Konzentrationslager – hier Einzeltaten festzustellen, wäre unglaublich schwierig", sagt Will. "Allein dort wurden tausende Wachleute eingesetzt."
Die Zentrale Stelle arbeitet deshalb bei der Frage nach der Beihilfe zum Mord nicht mit Einzeltaten. Stattdessen wird eine Tat dadurch bestimmt, dass die betreffende Person im entsprechenden Zeitfenster im Lager tätig war und von den Verbrechen wusste. Im Fall Demjanjuk etwa stellte das Landgericht fest, er sei "Teil eines eingespielten Apparats zum Zweck der systematischen Ermordung möglichst vieler Menschen" gewesen. Und in Lüneburg gab Gröning gleich am Anfang zu, schon kurz nach seiner Ankunft 1942 in Auschwitz von der Vergasung der Juden erfahren zu haben. "Für mich steht ausser Frage, dass ich mich moralisch mitschuldig gemacht habe", sagte er.
Ausweise, Urkunden, Meldungen – vieles kann als Beweis dienen
Für ihre Nachforschungen greift die Zentrale Stelle auf ein eigenes Archiv mit 1,7 Millionen Karteikarten zurück. Die Behörde recherchiert nicht nur in Deutschland, sondern auch im Ausland, sichtet weitere Archive, spricht mit Historikern. Jedes Dokument, das die Arbeit im Lager belegt, kann am Ende als Beweismittel helfen, um einen Prozess möglich zu machen: Ausweise, Urkunden, Kompaniemeldungen und viele andere Papiere.
Für Thomas Will und seine Kollegen heisst die erste Frage dann: Welche Jahrgänge kommen überhaupt noch in Betracht? Wer ist noch vernehmungsfähig und würde einen langen Prozess gesundheitlich durchhalten? Schritt für Schritt reduzieren sie so die Zahl möglicher Angeklagter. Ende 2013 übergab die Behörde eine Liste mit 30 Personen an die Staatsanwaltschaft. Gerade stünden drei Anklagen im Raum, berichtet Will. In zwei Fällen sei die Zulassung noch offen – der dritte wird derzeit in Lüneburg verhandelt.
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