Einst auf der Regierungsbank, jetzt auf der Anklagebank: Sebastian Kurz muss sich wegen Aussagen vor einem Untersuchungsausschuss verantworten. Hat Österreichs früherer Kanzler aus Image-Gründen gelogen?

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Die Staatsanwälte sind von ihrem Puzzle überzeugt. Die Auswertung unzähliger Chats auf Handys von Spitzenpolitikern und die Aussagen von Ex-Vertrauten belegen aus ihrer Sicht: Sebastian Kurz war als Kanzler der ÖVP-FPÖ-Koalition von 2017 bis 2019 entscheidende Instanz für praktisch alle Top-Personalien. Diese Realität stehe im Gegensatz zum Auftritt des damaligen Regierungschefs im Ibiza-Untersuchungsausschuss im Juni 2020. Dort habe er im Fall der Berufung seines Vertrauten Thomas Schmid zum Chef der Staatsholding Öbag nur eingeräumt, dass er informiert, aber nicht aktiv involviert gewesen sei. Die Folge: Wegen des Verdachts der Falschaussage muss sich der 37-Jährige, einst auch in Deutschland gefeierter Star der Konservativen, seit Mittwoch vor dem Landgericht Wien verantworten.

Als Österreichs Ex-Kanzler kurz vor Beginn der Verhandlung erschien, scharten sich wie zu besten Regierungszeiten Dutzende Kameraleute und Journalisten um ihn. Er nutzte die Bühne für das Verbreiten von Zuversicht sowie für Seitenhiebe auf den politischen Betrieb und die Justiz. "Ich hoffe doch auf ein faires Verfahren und darauf, dass sich am Ende des Tages die Vorwürfe als falsch herausstellen", so der Ex-Politiker. Er kritisierte zugleich, dass die Ermittlungen politisch beeinflusst sein könnten. "Ich halte es für sehr bedenklich, dass immer mehr versucht wird, mit Anzeigen Politik zu machen."

Über 100 Seiten Anklageschrift

Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft, die neben Kurz zwei weitere Verdächtige umfasst, hat 108 Seiten. Zum Prozessauftakt zeichnete Oberstaatsanwalt Gregor Adamovic das Bild einer von Partei- und Machtpolitik geleiteten Postenvergabe zwischen ÖVP und FPÖ rund um die einflussreiche Staatsholding Öbag, die laut Bilanz 2022 durch Unternehmensbeteiligungen ein Vermögen von 30 Milliarden Euro managte. Kurz habe die Strippen gezogen, sowohl bei der Frage des Chefpostens als auch bei der Besetzung der Aufsichtsräte, sagte Adamovic.

Der damalige Finanzminister Hartwig Löger habe nur Personalvorschläge liefern dürfen, aber das letzte Wort habe der Kanzler gehabt, so der Anklagevertreter. Zur Aussage von Kurz im U-Ausschuss, er sei informiert, aber nicht eingebunden gewesen, sagte Adamovic: "Diese Aussage ist falsch." Kurz habe im Ausschuss unbedingt den Eindruck vermeiden wollen, dass er Akteur gewesen sei. "Das sind keine harmlosen Halbwahrheiten, das sind Unwahrheiten." Auch das Verschweigen von substanziellen Informationen sei Teil einer unwahren Aussage, so der Staatsanwalt.

Kurz bestreitet Vorwürfe – Verteidiger fordert Freispruch

Kurz bestreitet die Vorwürfe vehement. Sein Anwalt spricht von einer "blossen Anhäufung von Scheinargumenten." Der Verteidiger forderte einen Freispruch.

Auf das Delikt stehen bis zu drei Jahre Haft. Der Prozess ist zunächst auf drei Tage anberaumt, dürfte aber deutlich länger dauern. Und wie immer das Urteil am Ende lautet: Entweder Staatsanwaltschaft oder Verteidigung werden wohl in die Berufung gehen, ein rechtskräftiges Urteil scheint also in weiter Ferne.

Zum Auftakt ist das Medien-Interesse jedenfalls enorm. Fast 100 Journalisten haben sich für den Prozess angemeldet. Mindestens 21 Zeugen, darunter Ex-Vizekanzler und ehemaliger FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache und der ehemalige Kurz-Vertraute Schmid, sollen vor Gericht auftreten.

Der Prozess gegen Kurz gehört zur Aufarbeitung der Regierungsära aus konservativer ÖVP und rechter FPÖ. Die Koalition zerbrach 2019 nach der Veröffentlichung eines auf Ibiza heimlich aufgenommenen Videos. Darin wirkte der damalige FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache anfällig für Korruption. Der Ibiza-Untersuchungsausschuss sollte Hinweisen auf Korruption in der Regierung Kurz nachgehen.

Staatsanwaltschaft: Kurz wollte Reputationsschaden verhindern

Die Staatsanwaltschaft meinte zum möglichen Motiv einer Falschaussage, dass Kurz als Kanzler – zum Zeitpunkt der Aussage sehr populär – einen Reputationsschaden für sich und seine ÖVP habe verhindern wollen. Der junge Regierungschef habe den Bürgern einen "neuen Stil" versprochen, in den das Bild von machtpolitischen Begünstigungen bei Postenvergaben wohl nicht gepasst hätte, sagte Adamovic.

Kurz war im Herbst 2021 vom Amt des Kanzlers zurückgetreten und hatte sich wenig später ganz aus der Politik verabschiedet. Er betreibt inzwischen ein Cybersecurity-Unternehmen mit 50 Angestellten in Tel Aviv sowie eine Beratungs- und eine Investmentfirma. Über die Kosten des Verfahrens muss er sich keine Sorgen machen. Die ÖVP trägt alle Ausgaben für die Verteidigung ihres ehemaligen Parteichefs. (Matthias Röder, dpa/tas)

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