Nach der Inhaftierung Imamoglus ist CHP-Chef Özgür Özel der neue starke Mann in der türkischen Opposition. Auf dem Parteitag fordert er schnelle Neuwahlen.
Er galt als blasser, unauffälliger Technokrat, dem es nicht wirklich gelang, der angeschlagenen türkischen Oppositionspartei CHP zu einer neuen Vision zu verhelfen. Seit der Festnahme des Istanbuler Bürgermeisters Ekrem Imamoglu vor mehr als zwei Wochen ist der CHP-Vorsitzende Özgür Özel jedoch zum Gesicht der seitdem stattfindenden Massenproteste gegen die Regierung geworden. Beobachtern zufolge könnte ihm eine grosse politische Zukunft bevorstehen.
Özel organisiert und führt den Protest gegen Erdogan
Özel war es, der die Festnahme des aussichtsreichsten Rivalen von Recep Tayyip Erdogan als "Putsch" bezeichnete und dem es gelang, hunderttausende Demonstranten zu mobilisieren, die allabendlich vor der Istanbuler Stadtverwaltung den Rücktritt der Regierung forderten. "Hey Erdogan, von jetzt an sind wir auf der Strasse. Fürchte dich vor uns!" – So lautete die Kampfansage, die Özel mit einer nach zahlreichen Reden vor den Protestierenden heiser gewordenen Stimme an den Langzeit-Präsidenten richtete.
Imamoglu galt lange Zeit als der einzige CHP-Politiker, der Erdogan an der Wahlurne herausfordern könnte. Er wurde kurz vor dem Termin seiner Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten festgenommen.
Nun tritt Özel ins Rampenlicht und gibt der säkularen Partei des Republikgründers Kemal Atatürk zunehmend wieder Profil. Am Sonntag will ihn die CHP bei einem ausserordentlichen Parteitag im Amt bestätigen. Dort schickte er eine Forderung nach Ankara. Bis spätestens November sollen Neuwahlen in der Türkei stattfinden, fordert er. "Spätestens im November werden Sie unserem Kandidaten gegenüberstehen", sagte er und schob nach, "wir werden Ihnen trotzen, wir wollen unseren Kandidaten an unserer Seite haben".
Kurze Zeit später ist der 50-Jährige als Parteichef wiedergewählt worden. Er erhielt 1.171 von 1.276 Delegiertenstimmen und damit alle gültigen abgegebenen Stimmen, berichtete die oppositionsnahe Nachrichtenagentur Anka. Neben Özel trat kein anderer Kandidat an. Die CHP reagierte mit dem Sonderparteitag auf Befürchtungen, es könne ein Treuhänder für die Partei eingesetzt werden. So eine Massnahme ist mit der Wahl aber nicht abgewendet, sagte die stellvertretende Vorsitzende der CHP, Gamze Tascier.
Die Einsetzung könnte in Zusammenhang mit Ermittlungen gegen die Partei wegen eines Parteitages 2023 geschehen. Im Raum steht der Vorwurf, es seien Delegierte mit Mobiltelefonen bestochen worden, um für Özel zu stimmen. Özel und die CHP weisen die Vorwürfe von sich. Die Partei sieht hinter der möglichen Treuhänder-Einsetzung wie hinter der Verhaftung Imamoglus den Versuch der Regierung, die Opposition zu schwächen.
Özel kehrte die Scherben der CHP nach der verlorenen Wahl 2023 wieder auf
Özel wurde 1974 in Manisa nahe der Ägäismetropole Izmir als Sohn eines Lehrer-Ehepaares geboren. Nach dem Pharmaziestudium leitete er den türkischen Apothekerverband, bevor er 2011 als Abgeordneter der CHP für Manisa ins Parlament ging und damit seine politische Laufbahn startete.
2018 wurde er zum Fraktionsvorsitzenden gewählt und machte in dieser Funktion bald mit seinen unverblümten Reden auf sich aufmerksam. Özel setzte sich unter anderem für die Sicherheit von Bergbauarbeitern, für bessere Haftbedingungen in Gefängnissen und für die Belange von Studenten ein. "Er mag vielleicht kein charismatischer Redner sein, aber er ist wortgewandt, deutlich und äusserst regierungskritisch, und diese Strategie funktioniert", sagt Berk Esen, Politikwissenschaftler an der Sabanci-Universität in Istanbul, über den 50-jährigen Politiker, der auch Deutsch spricht.
Als bei der Präsidentenwahl 2023 der damalige CHP-Vorsitzende und Präsidentschaftskandidat Kemal Kilicdaroglu gegen Erdogan verlor, stürzte das die Partei in eine Krise. Sechs Monate später wurde Kilicdaroglu an der Parteispitze durch Özel ersetzt. Özel, der mit Unterstützung von Imamoglu gewählt wurde, kündigte an, er wolle "die Tür zu einem neuen politischen Klima" in der Türkei öffnen und die Parteiführung verjüngen.
Fortan arbeiteten Özel und Imamoglu als Team. "Die beiden Männer teilen sich die Aufgabe: Imamoglu bereitet sich auf die Präsidentschaft vor, Özel hält die Partei und die Fraktion zusammen", sagte der CHP-Anwalt Ahmet Kiraz. Beide teilen demnach zudem eine Vorstellung von der Machtverteilung im Staat, in der anders als derzeit unter Erdogan das Parlament eine starke Rolle hat.
CHP gewinnt in Istanbul und Ankara
Wenige Monate nach Özels Amtsantritt gelang der CHP im März 2024 bei den Kommunalwahlen ein überwältigender Sieg. Die Partei sicherte sich nicht nur erneut die Kontrolle über Grossstädte wie Istanbul und Ankara, sondern gewann sogar Provinzen, die zuvor als Hochburgen der islamisch-konservativen Partei Erdogans gegolten hatten. Seit diesem Erfolg stehen die Partei und ihre Politiker zunehmend im Visier von Ermittlungen. Besonders hart ging die Justiz mit dem über die Parteigrenzen hinweg äusserst beliebtem Imamoglu um, der nun wegen "Korruption" im Hochsicherheitsgefängnis Silivri sitzt.
Um über eine mögliche Präsidentschaftskandidatur Özels zu sprechen, ist es Beobachtern zufolge noch zu früh. Sollte Imamoglu jedoch an einer Kandidatur gehindert werden, wäre Özel "der am besten geeignete" Kandidat, meint Kiraz. "Er hat das Zeug zu einem Ersatzkandidaten. Er weiss, wie man Menschen zusammenbringt."
Nach den Worten des Politikwissenschaftlers Esen hat Özel seine Partei bisher gut gegen die Angriffe Erdogans verteidigt. "Wenn er seinen Kurs beibehält, könnte er ein beeindruckender Politiker werden." (afp/dpa/bearbeitet von the)