- Nach rund 40-jähriger SPD-Mitgliedschaft verliess Oskar Lafontaine die Partei 2005 und trat noch im selben Jahr der Linkspartei bei.
- Derzeit ist er Linke-Fraktionsvorsitzender im saarländischen Landtag.
Herr
Oskar Lafontaine: Die Antwort, warum sie seit der letzten Bundestagswahl und bei der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt noch einmal viele Stimmen verloren hat, ist ganz einfach: Die SPD macht keine Politik mehr, die ihre früheren Wählerinnen und Wähler anspricht. Das ist so eindeutig, dass es mich wundert, dass die führenden Sozialdemokraten bis heute keine Konsequenzen ziehen.
Was müsste die SPD ändern, um ihr Wählerpotenzial auszuschöpfen?
Sie müsste ihre Sozialabbau-Entscheidungen rückgängig machen. Es wäre Aufgabe der SPD, dafür zu sorgen, dass nicht mehr Millionen Menschen Niedriglöhne bekommen und später nicht von ihrer Rente leben können. Es wird immer wieder von der neoliberalen Propaganda die Parole ausgegeben, man wolle nicht zurück in die 80er Jahre. Und viele fallen darauf herein. Aber das Problem ist doch: Die Menschen, die älter werden, wollen tatsächlich zurück in die 80er; in eine Zeit, als es nach einem langen Arbeitsleben noch eine ordentliche Rente gab.
Ihre eigene Partei findet in Umfragen auch kaum Zuspruch. Warum kann die Linke nicht von der Schwäche der SPD profitieren?
Wenn man die aktuellen Zahlen und das Ergebnis der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt ansieht, haben wir uns seit der Bundestagswahl 2009 fast halbiert. Die Probleme der Partei Die Linke sind die gleichen wie die der SPD. Sie hat die Zustimmung der Arbeiter und Arbeitslosen verloren. Diese Menschen haben keine Partei mehr, von der sie sich vertreten fühlen. Deshalb wählen sie entweder gar nicht oder aus Protest die AfD.
Was muss die Linke tun, um diesen Menschen ein Angebot zu machen?
Zentral wäre eine Neuausrichtung der Migrationspolitik. Das aktuelle und von fast allen Parteien in Deutschland proklamierte Modell stellt die soziale Gerechtigkeit auf den Kopf. Wir ziehen gute Leute aus Afrika oder aus wirtschaftlich schwächeren Regionen Europas ab und beschäftigen sie in Ländern, die einen höheren Wohlstand haben - und halten das für eine soziale Migrationspolitik. Dabei ist das Neo-Kolonialismus. Diese Politik schadet nicht nur den Herkunftsländern dieser Menschen, sondern auch den Schwächsten hier in Deutschland. Sie sind die Leidtragenden, wenn Mieten steigen und Löhne sinken. Mit den vielen Milliarden, die wir in Deutschland ausgeben, um die Migration zu ermöglichen, könnten wir vor Ort viel mehr helfen - wie es im Übrigen auch die Migrationsforschung rät.
Das sehen viele Ihrer Parteifreunde anders.
Leider begreifen viele nicht, dass bei der Höhe von Löhnen und Mieten das Prinzip von Angebot und Nachfrage gilt. Wenn Migranten bereit sind, für Niedriglöhne zu arbeiten, entsteht automatisch Lohndumping. Engagierte Linke würden jetzt antworten: "Aber das ist doch nicht die Schuld der Migranten!" Das stimmt, ändert aber nichts daran, dass durch die Migrationspolitik der letzten Jahre in bestimmten Bereichen ein unmenschlich niedriges Lohnniveau entstanden ist. Denken Sie beispielsweise an die Fleischindustrie. Die Migranten leben aber immer noch besser als in ihren Heimatländern, deshalb kommen sie.
Die letzten beiden Antworten hätten so auch von einem AfD-Politiker stammen können.
Dieser Verweis auf die AfD ist ein abgelutschtes Bonbon des deutschen Journalismus. Es wäre doch beispielsweise Unsinn, zu sagen: Die AfD tritt für gute Beziehungen zu Russland ein,
Wie die AfD kritisieren Sie neben der deutschen Flüchtlingspolitik auch die USA und treten für eine Rückkehr zu nationalen Währungen ein, um den Euro abzulösen.
Meine Haltung zu den USA wurde durch den Vietnam-Krieg geprägt. Und für eine Migrationspolitik nach dem Modell Albert Schweitzers – gut ausgebildete Leute gehen nach Afrika, um dort zu helfen – werbe ich seit den 80er Jahren. Mit der AfD hat das nichts zu tun, sie ist eine neoliberale Partei, die Politik gegen die kleinen Leute macht. Sie stimmt im Bundestag gegen die Erhöhung des Mindestlohns, gegen eine Anhebung des Hartz-IV-Satzes und gegen eine wirksame Mietpreisbremse. Sie macht auch in ihrem Wahlprogramm keine Vorschläge, die Armutsrenten zu verbessern oder den Niedriglohnsektor auch durch die Änderung der Zumutbarkeitsklausel bei Hartz IV abzubauen. Zum Euro: Ich bin anders als die AfD für ein europäisches Währungssystem, einen Währungsverbund, der vor allem den Ländern Südeuropas wieder Abwertungen ermöglicht.
Damit zurück zu SPD und Linke, denen im Prinzip beiden an sozialen Verbesserungen gelegen ist. Sind Sie noch immer der Meinung, dass eine Fusion der beiden Parteien sinnvoll wäre?
Das wäre, wie man jetzt auch in Sachsen-Anhalt sieht, ein neuer Ansatz gewesen. Aber das aktuelle Führungspersonal denkt nicht in solchen Kategorien. Zudem müsste man erst einmal herausfinden, inwieweit die SPD wirklich bereit ist, Rentenkürzungen und Niedriglöhne wieder zu bekämpfen. Zudem stellt der sozialdemokratische Aussenminister Heiko Maas die Ost-Entspannungspolitik
Bei aller Kritik, Sie waren selbst fast 40 Jahre SPD-Mitglied. Denken Sie nie darüber nach, ob der Parteiaustritt 2005 der richtige Schritt gewesen ist?
Darüber denke ich öfters nach. Bei einer so schwerwiegenden Entscheidung weiss man im Vorhinein ja nie, wie es ausgehen wird. Mein Kalkül damals war, dass es nur durch eine neue Partei möglich sein würde, eine linke Mehrheit im Bundestag zu erhalten. Diese Rechnung ist aufgegangen. Nach der Wahl 2005 hätten SPD, Linkspartei und Grüne zusammen regieren können. Die SPD hat sich in die grosse Koalition geflüchtet, anstatt selbst den Kanzler zu stellen. Das verstehe, wer will. Wie gross dieser Fehler war, hat sie nicht kapiert – und ihn 2013 sogar wiederholt, als es nochmal eine Mehrheit für Rot-Rot-Grün gab. Heute bekommt sie die Quittung dafür.
Sie haben Ihren SPD-Austritt trotzdem nicht bereut?
Bereuen ist das falsche Wort. Manchmal frage ich mich, ob es nicht besser gewesen wäre, in der SPD zu bleiben und die Sozialabbau-Politik wieder zu korrigieren.
Ihr Parteiaustritt im Jahr 2005 markiert nur einen der grossen Brüche in Ihrer politischen Laufbahn. 1990 sind Sie als Kanzlerkandidat der SPD
Ich musste mir während des Wahlkampfes immer wieder einreden, dass ich gewinnen könnte, sonst hätte ich ihn gar nicht durchgestanden. Aber in Wahrheit hatte ich ein doppeltes Handicap und keine Chance.
Wie meinen Sie das?
Erstens war ich nach dem schweren Messerattentat auf mich im April 1990 in keiner guten Verfassung. Ich habe mehrfach darum gebeten, dass mir jemand in der SPD die Bürde der Kanzlerkandidatur abnimmt. Aber ich konnte niemanden dafür gewinnen. Das war eine grosse persönliche Enttäuschung, bei der ich die SPD nicht mehr verstanden habe.
Und zweitens?
War Kohl der Kanzler der Einheit, ihm gehörte die Bühne der Welt. Mit seinen Versprechen von den blühenden Landschaften hat er den Wählern genau das gesagt, was sie hören wollten. Ich habe dagegenhalten, weil ich die Menschen im Osten nicht belügen wollte. Für mich war zu dem Zeitpunkt klar, dass die Einführung der D-Mark zum Kurs 1:1 die ostdeutsche Wirtschaft von einem Tag auf den anderen konkurrenzunfähig machen und eine Massenarbeitslosigkeit erzeugen würde. Ich hatte einen gleitenden Übergang der Währungen vorgeschlagen. Am Anfang stiess ich auf Widerstand, aber in den folgenden Jahren sind viele Menschen auf mich zugekommen und haben gesagt: "Wir haben Sie damals nicht verstanden, aber jetzt wissen wir, was Sie gemeint haben."
Jahre vorher waren Sie durch Ihre Ablehnung des NATO-Doppelbeschlusses, durch den mit Atomsprengköpfen bestückte Raketen in Westeuropa zur Abschreckung gegenüber der Sowjetunion aufgestellt werden sollten, zumindest nicht ganz unschuldig daran, dass Helmut Kohl überhaupt Kanzler werden konnte.
Der Kampf gegen den NATO-Doppelbeschluss war für mich eine Frage der Überzeugung. Als Mitglied der Friedensbewegung war ich 1979 sicher, dass es in einer Welt, in der die Atomwaffen ausreichen, um sich zehnmal zu vernichten, nicht sinnvoll wäre, weitere Atomraketen aufzustellen. Dies hat Kanzler Helmut Schmidt in der sozialliberalen Koalition in Schwierigkeiten gebracht. Aber wenn es um einen möglichen Atomkrieg geht, treten parteipolitische Überlegungen zurück. Die Pershing-2-Raketen hatten praktisch keine Vorwarnzeit. Ich habe das damals immer so formuliert: Der sowjetische Generalsekretär Breschnew ist noch nicht von der Toilette zurück, da ist die Rakete schon eingeschlagen.
Mit Blick auf die 80er und 90er Jahre: Hätten Sie in Ihrer Karriere mehr erreichen können, wenn Sie weniger Überzeugungstäter gewesen wären?
Ich war Oberbürgermeister, Ministerpräsident, Minister und zweimal Bundesvorsitzender einer Partei und wollte mein Fähnchen nie nach dem Winde drehen.
1998 hätten Sie als SPD-Chef einen zweiten Anlauf auf das Kanzleramt wagen können. Warum haben Sie
Ich wollte als Parteivorsitzender sicherstellen, dass der Regierungswechsel zustande kommt. Schröder hatte die besseren Umfragewerte, deshalb habe ich gesagt: Wenn wir verabreden, wichtige Sach- und Personal-Entscheidungen gemeinsam zu treffen, überlasse ich dir die Kandidatur. Es war ein grosser Fehler, dass ich geglaubt habe, er würde sich an die Abmachung halten. Der Sozialabbau der Agenda 2010 stand nicht im Wahlprogramm der SPD. Dort war weder von Renten- noch von Lohnkürzungen die Rede.
Sie wurden nach der Wahl Bundesfinanzminister, traten aber schon nach wenigen Monaten zurück.
Ich musste Konsequenzen ziehen, weil ich diese Politik nicht mittragen konnte. Der grosse Bruch mit Schröder – und übrigens auch mit Fischer – kam, als die beiden ohne mein Wissen zu US-Präsident Clinton reisten und ihm zusagten, dass Deutschland sich am Kosovo-Krieg beteiligen würde. Ein unabgesprochener Kriegseintritt! Ich fühlte mich aber der Maxime von Willy Brandt verpflichtet: Von deutschem Boden darf niemals wieder Krieg ausgehen.
Wie ist Ihr Verhältnis zu Gerhard Schröder heute?
Schröder ist mir immer aus dem Weg gegangen. Er wird Gründe dafür haben.
Von der SPD-Troika der 90er Jahre – Scharping, Schröder, Lafontaine – ist heute keiner mehr präsent in der Partei. Hat die SPD vergessen, wer und was sie einmal ausgemacht hat?
Das kann man so sagen, wobei die Gründe bei den drei Genannten sehr unterschiedlich sind. Scharping ist in den vergangenen Jahren politisch kaum mehr in Erscheinung getreten. Bei Schröder ahnen mittlerweile die meisten Sozialdemokraten, dass seine Politik zum Niedergang der SPD geführt hat. Und was mich angeht, so nehmen mir viele den Parteiaustritt natürlich bis heute übel, was ich menschlich nachvollziehen kann. Aber ich konnte und wollte die Politik, mit der die SPD in der Ära Willy Brandts für die Menschen viel erreicht hat, nicht aufgeben.
Fühlen Sie sich im Programm der Linke denn noch so wohl wie bei Ihrem Parteieintritt im Dezember 2005?
Ich habe als Partei- und Fraktionsvorsitzender darauf hingearbeitet, dass wir eine starke Zustimmung in der Arbeitnehmerschaft und bei den Arbeitslosen finden. Das ist vor allem 2009 gelungen. Dieses Vertrauen haben wir heute leider verloren.
Ist also ein weiterer Bruch in Ihrer politischen Karriere denkbar? Etwa die Neugründung einer linken Partei gemeinsam mit Ihrer Frau Sahra Wagenknecht?
Die von uns ins Leben gerufene Bewegung "Aufstehen" hatte den Zweck, das linke Parteienspektrum zusammenzuführen und neue Impulse zu geben, ohne eine neue Partei zu gründen – obwohl viele Mitglieder das wollten. Leider haben viele Spitzenpolitiker der angesprochenen Parteien die Bewegung abgelehnt und nicht erkannt, was für eine Chance darin gelegen hätte. Das ist schade. Vielleicht setzt ja bei den heute Verantwortlichen nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt ein Umdenken ein.
Und Sie bereiten sich derweil auf den baldigen Ruhestand vor?
Ich bin schon lange nicht mehr in der ersten Reihe. Für den Neuanfang muss die neue Führungsgeneration sorgen. Ich bin bei guter Gesundheit und werde mich weiter politisch zu Wort melden. Aber ich muss mir nichts mehr beweisen.
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