Hart zu Flüchtlingen, nah bei Europa und Rechtsaussen, nett zu seinen Kritikern: Der jüngste Regierungschef Europas hat sich in Österreich geschickt an die Spitze manövriert. Jetzt besucht er die Schweiz. Ein Porträt des österreichischen Journalisten Werner Bartl, der den Aufstieg von Sebastian Kurz aus der Nähe beobachtete.
Der US-Botschafter in Berlin bezeichnete ihn als "Rockstar" und in Talkshows wird er als "Wunderknabe" angekündigt. Sachlichere Lobeshymnen bezeichnen ihn als "politisches Ausnahmetalent". Seit einem knappen Jahr ist der 32-jährige
Österreich wird den UNO-Migrationspakt "für sichere und regulierte Migration" nicht unterzeichnen, da den Regierungsparteien zufolge nicht klar genug zwischen legaler und illegaler Einwanderung unterschieden wird. Damit folgt das Land dem Beispiel der USA unter Präsident
Den Beliebtheitswerten von Kurz und der bürgerlich-konservativen ÖVP schadet es nicht. Neuwahlen würden ihn laut Umfragen erneut zum Kanzler machen.
Erst laut, dann bescheiden
Sein kometenhafter Aufstieg und Durchmarsch zum Kanzleramt begann, als der damalige Vizekanzler den 24-jährigen Jungpolitiker vor sieben Jahren überraschend zum Staatssekretär für Integration und Asyl ernannte. Kurz war zuvor als Bundesobmann der Jungen Volkspartei auch bei provokanten Wahlkämpfen ("Schwarz ist geil") aktiv.
Als Staatssekretär agierte er bescheiden und erklärte gerne, dass er in seiner Jugendzeit in einem typischen Wiener Arbeiterbezirk "keine goldenen Löffel im Mund hatte". Tatsächlich besuchte der Sohn einer Lehrerin und eines Ingenieurs öffentliche Schulen, wo beinahe die Hälfte der Schüler einen Migrationshintergrund hatte. Nachdem er mit Auszeichnung maturierte, begann er ein Jus-Studium an der Uni Wien, das er bis heute nicht abgeschlossen hat.
Geschliffener Mund, umfassend beraten
Anfangs war Kurz als Staatssekretär medial im Kreuzfeuer der Kritik und wurde sogar als "missglückter PR-Gag" bezeichnet. Minister nahmen bei Fototerminen von ihm Abstand, um nicht mit dem "schnöselig wirkenden Jungspund" auf einem Bild zu sein. Er gewann mit geschliffener Rhetorik und dem Slogan "Integration durch Leistung" jedoch allmählich die Zustimmung der Bevölkerung. Ein kleiner Kreis von Vertrauten und Beratern formte sich um ihn.
Er vermied tunlichst Fettnäpfchen und wich bei heiklen Fragen bald gekonnt auf typische Politiker-Stehsätze aus. Seine Integrationskampagne #stolzdrauf rechtfertigte Kurz 2014, damals Aussenminister, noch mit den Worten, dass "wir zu wenig Willkommenskultur haben". Als im September 2015 der Bundespräsident, der damalige Kanzler und viele Minister durchreisende Flüchtlinge am Wiener Westbahnhof begrüssten, blieb er dem Schauplatz und den Fernsehkameras jedoch fern, auf Anraten seines Teams.
Schritt für Schritt wurde Sebastian Kurz von seinem Team mit sorgsam geplanten Auftritten und einprägenden Botschaften für seinen weiteren Aufstieg vorbereitet. Für die Schliessung der Balkanroute im Frühjahr 2016 wird Kurz als Mastermind gesehen. "Wir haben mit extremem Fingerspitzengefühl die Schliessung der Westbalkanroute vorangetrieben", betonte er. Ohne das Abkommen der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel mit der Türkei hätten seine Gespräche mit anderen Ländern aber keine schnellen Resultate gebracht. Als Gastgeber bei den Syrien-Friedensgesprächen in Wien baute er sein Netzwerk international aus.
Massgeschneiderte Partei
Dann ergab sich die Aufstiegschance. Nach parteiinternen Querelen im Mai 2017 trat der Parteiobmann Reinhold Mitterlehner zurück, später bezeichnete er die "Überforderung bei der Masse an Flüchtlingen" als grössten politischen Fehler: "Der Aussenminister [Kurz] hatte die bessere Strategie."
Kurz nahm die Wahl zum neuen ÖVP-Obmann an, aber lehnte das Amt des Vizekanzlers in der rot-schwarzen Koalitionsregierung ab. Er forderte Neuwahlen. Für ihn ging es nun um alles oder nichts, er forderte von seiner angeschlagenen Partei weitreichende Machtbefugnisse.
Zur Wahl trat die Österreichische Volkspartei ÖVP nun als "Liste Sebastian Kurz – Die neue Volkspartei" an. Bei der Nationalratswahl im Oktober 2017 wurde sie erstmals seit 2002 wieder stimmenstärkste Partei, vor den Sozialdemokraten (SPÖ) und den Freiheitlichen (FPÖ). Kurz wurde Kanzler und formte mit der rechtskonservativen FPÖ die neue Regierung.
Kommunikation professionalisiert
Bei der Nationalratswahl wurden von Kurz und seinem Team wichtige Botschaften so lange wiederholt, bis sie so gut wie jeder gehört hatte. Dies ist weiterhin der gelebte Kommunikationsstil. Noch nie gab es in der Regierung so viele Pressesprecher und Öffentlichkeitsarbeiter in den Ministerien und Staatssekretariaten. Die Aussenwirkung der Regierung soll von PR-Profis gesteuert werden. Öffentliche Aussagen von Ministern werden zuvor besprochen.
Vor allem ist man entschlossen öffentlichen Streit mit dem Koalitionspartner zu vermeiden. Man weiss, dass das politikerverdrossene Stimmvolk solche Auseinandersetzungen nicht goutiert. Tatsächlich sind die Österreicher mit "denen da oben" nun zufriedener als früher. Das System "Message Control" funktioniert für Kurz, lässt aber bei vielen Journalisten, die "Propaganda statt Debatten" befürchten, die Alarmglocken schrillen.
Ungewohnte Aktionen des Innenministeriums
Kritisch sahen sie etwa, wie aus dem Innenministerium eine Email an diverse Polizeidienststellen gesandt wurde. Man forderte darin verstärkte Kommunikation der Sexualstraftaten von Ausländern und empfahl gleichzeitig eine Informationssperre für namentlich genannte regierungskritische Medien. Kurz musste Stellung nehmen. "Jede Einschränkung von Pressefreiheit ist nicht akzeptabel", sagte er.
Das Innenministerium ordnete auch eine grösstenteils rechtswidrige Razzia beim Bundesamt für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) an und beschlagnahmte dabei sensible Daten. Seit April 2018 beschäftigt sich ein Untersuchungsausschuss mit der erfolgten politischen Einflussnahme. Aus dem "Berner Club" (Inlandsnachrichtendienste von 28 EU-Ländern, Norwegen und der Schweiz) zog sich Österreich bis zur Klärung der Affäre vor einigen Wochen freiwillig zurück.
Internationales Aufsehen
Auch international sorgte die Regierung Kurz für Aufsehen. Israel reduzierte nach der Angelobung der österreichischen Regierung alle Kontakte zu Ministerien, die von Ministern der rechtskonservativen FPÖ geleitet werden, auf Beamtenebene. Als Grund für den Boykott wurden von Israel die antisemitischen Wurzeln der Freiheitlichen und später auch aktuelle Vorwürfe der österreichischen Juden genannt.
Zu ihrer Hochzeit im August lud die österreichische Aussenministerin Karin Kneissl den russischen Präsidenten Wladimir Putin ein. Ihr Tänzchen mit ihm sorgte für internationale Schlagzeilen. Kanzler Sebastian Kurz kam ebenfalls zur Hochzeit, blieb aber im Hintergrund. Danach begleitete er Putin in seiner Limousine auf der halbstündigen Fahrt zum Flughafen.
Allianz mit rechten Populisten
Dass FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache in Moskau mit der Kreml-Partei "Einiges Russland" bis 2021 eine "Vereinbarung über Zusammenwirken und Kooperation" unterzeichnete, sorgt – so wie die unklare Haltung einiger FPÖ-Politiker zur Krim-Annexion – in der EU für Kopfschütteln.
Aber so schrill und populistisch sein Koalitionspartner auch ist: Kurz braucht die FPÖ und muss daher versuchen die Wogen zu glätten. Für den EU-Wahlkampf 2019 ist eine Art "Waffenstillstand" zwischen ÖVP und FPÖ ausgehandelt. Die EU-kritische Haltung der FPÖ steht im Widerspruch zum "überzeugten Europäer" Kurz. Seine erste Auslandsreise als Bundeskanzler hat er vor einem Jahr nicht – wie traditionell üblich – in die Schweiz, sondern nach Brüssel angetreten.
Die erste Auslandsreise des Schweizer Bundespräsidenten Alain Berset führte ihn im Januar 2018 dennoch nach Wien, um unter anderem auch mit Kanzler Kurz über Europa- und Asylpolitik zu sprechen. © swissinfo.ch
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