Polen steht an einem Wendepunkt seiner Geschichte. Wenn sich die vorläufigen Ergebnisse der Parlamentswahl bestätigen, ist die rechtskonservative Regierungspartei PiS nach acht Jahren abgewählt und die Opposition um Donald Tusk übernimmt das Ruder. Doch die PiS wird den Staat nicht kampflos aufgeben.
Schon nach der Veröffentlichung der ersten Prognose war sich Donald Tusk sicher: "Die Demokratie hat gewonnen - wir haben sie (die bisherige Regierung; Anm. d. Red.) von der Macht abgesetzt." Die Nachwahlumfragen zur Parlamentswahl in Polen am Montagmorgen bestätigen ihn. Nach acht Jahren PiS-Regierung und einem systematischen Abbau der Rechtsstaatlichkeit wird Polen zukünftig wohl wieder von einer pro-europäischen Koalition regiert, die sich klar zur Demokratie bekennt.
Aktuell kommen die drei grössten Oppositionsbündnisse von KO (31 Prozent), Dritter Weg (13,5 Prozent) und Lewica (8,5 Prozent) auf 248 von 230 für die Mehrheit nötigen Sitze. Die PiS (36,5 Prozent) bleibt zwar stärkste Kraft, verfehlt aber mit dem einzig möglichen Partner, der rechtsextremen Konfederacja (6,4 Prozent), deutlich eine Regierungsmehrheit.
Politikwissenschaftler Pawel Karolewski hält die Ergebnisse der Nachwahlumfragen vom Montagmorgen für "ziemlich robust", da diese schon circa 50 Prozent der abgegebenen Stimmen berücksichtigen. Grosse Verschiebungen, wie sie die PiS brauchen würde, sind äusserst unwahrscheinlich.
Koalitionspartner inhaltlich verschieden, aber einig im Ziel
Der neue polnische Premierminister wird also mit hoher Wahrscheinlichkeit Ex-EU-Ratspräsident Donald Tusk vom Wahlbündnis KO. Die KO besteht aus mehreren Parteien, ist durch den hohen Anteil von Tusks PO im Kern konservativ-liberal, enthält aber auch die grüne Partei. Karolewski würde die KO am ehesten mit dem "liberalen Flügel der CDU" vergleichen.
Koalitionspartner wäre einerseits das neue Bündnis "Dritter Weg". Es vertritt in Fragen wie dem Abtreibungsrecht deutlich konservativere Positionen als die KO. Anders als die PiS bekennt sich dieses Bündnis aber klar zur Rechtsstaatlichkeit. Den anderen Partner Lewica bezeichnet Karolewski als eine "moderne Linke", die zum Beispiel Fragen des Umweltschutzes berücksichtigt.
Trotz bestehender inhaltlicher Differenzen rechnet Karolewski mit schnellen, erfolgreichen Koalitionsverhandlungen. Dabei dürfte vor allem das gemeinsame Projekt helfen: "Ich glaube, sie werden sich pragmatisch entscheiden, die Riesenprobleme, die die PiS hinterlässt, zu bewältigen."
Beziehungen zur EU werden sich "radikal verbessern"
In acht Regierungsjahren hat die PiS-Regierung den Rechtsstaat entstellt. Gerichte wurden umgebaut und mit Günstlingen der PiS besetzt. Vor allem das Verfassungsgericht stellt mittlerweile einen verlängerten Arm der Partei dar. Die neue Regierung wird gut damit beschäftigt sein, diese Entwicklungen zurückzudrehen.
Die Verstösse gegen Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit haben zu einem schlechten Verhältnis zur Europäischen Union geführt – auch mit finanziellen Folgen für das Land. Der Corona-Wiederaufbaufonds wurde eingefroren, Polen fehlen Milliarden an EU-Geldern.
Karolewski erwartet eine "radikale Verbesserung der Beziehungen zur Europäischen Union" unter einem Premierminister Tusk, der in der EU bestens vernetzt ist. Als drittes und ebenso wichtiges Projekt nennt der Politikwissenschaftler die Aufarbeitung der vergangenen acht Jahre und die Strafverfolgung krimineller Machenschaften innerhalb der PiS.
Teilen der PiS droht die Strafverfolgung
Polnische Rechtsexperten haben bereits einige Fälle von Machtmissbrauch und Veruntreuung öffentlicher Gelder benannt. Karolewski rechnet damit, dass es unter der neuen Regierung Ermittlungen geben wird und die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden.
Er warnt aber auch, dass die PiS das nicht einfach so geschehen lassen wird: "Ich gehe davon aus, dass momentan viele Akten vernichtet werden." So könnte die Arbeit von Ermittlern erschwert werden, sodass am Ende schwer nachvollziehbar ist, welche einzelnen Akteure kriminell gehandelt und sich bereichert haben.
Auch darüber hinaus wird die PiS das Feld nicht kampflos verlassen: "Die Partei weiss genau, dass sie nicht nur die Macht verliert, sondern dass auch ihre Missetaten geahndet werden", erklärt Karolewski. Zwar hat sie die Parlamentsmehrheit verloren, doch in anderen Institutionen bleibt sie stark vertreten.
Präsident Duda kommt besondere Rolle zu
Da wäre zum einen Staatspräsident Duda, der bislang der PiS die Stange gehalten hat und Rechtsstaatsverstösse der Partei mittrug. Er wird wohl zuerst der PiS als stärkster Kraft den Regierungsauftrag erteilen. Diese wird dann aller Voraussicht nach aber bei der Regierungsbildung scheitern, sodass dann Donald Tusk die Chance bekommt.
Als Präsident kann Duda gegen Gesetze ein Veto einlegen, das die Regierung nur mit einer Drei-Fünftel-Mehrheit im Parlament, einer sogenannten "präsidialen Mehrheit", überstimmen kann. Gemeinsam mit dem Verfassungsgericht kann er der neuen Regierung so einige Steine in den Weg legen.
Karolewski sieht jetzt die Chance für Duda, aus der Handlanger-Rolle herauszuwachsen und als überparteilicher Präsident eine gewisse Unabhängigkeit zu gewinnen. Allerdings müsste er dafür glaubhaft für eine Wiederherstellung des Rechtsstaats eintreten, an dessen Abbau er selbst beteiligt war.
PiS-nahe Medien säen Zweifel an der Wahl
Eine weitere Machtsäule der PiS war die Kontrolle über circa 50 Prozent der Medien in Polen. In regierungsnahen Medien kam es bereits zu ersten Erklärungsversuchen für die Wahlniederlage. So wurde die Erzählung verbreitet, dass die historisch hohe Wahlbeteiligung von 73 Prozent aus dem Ausland gesteuert worden sei und letztlich die EU und Deutschland dahintersteckten.
Doch dieser Machtfaktor wird der PiS bald wegbrechen. Beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk, der in Polen staatsnäher als in Deutschland organisiert ist, kann die neue Regierung schnell Personalwechsel vornehmen und die PiS-Propaganda unterbinden.
Andere nötige Veränderungen, zum Beispiel beim Verfassungsgericht, werden mehr Zeit brauchen. Die PiS wird den Staat, den sie sich in acht Jahren zu eigen gemacht hat, nicht einfach so wieder hergeben.
Verwendete Quellen:
- Gespräch mit Pawel Karolewski
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