Nach dem Beben in Deutschland lautet die Frage: Wie weiter – und welche Wellen wirft das Ereignis? swissinfo.ch hat zusammengetragen, wie Experten die Wirkung der Übergangssituation in Deutschland auf Europa, die Schweiz und die Schweizer Wirtschaft einschätzen.

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Deutschland steckt politisch in der Sackgasse. Nach dem Scheitern der Koalitionsgespräche ist die Situation bis auf weiteres blockiert.

Zwischen Neuwahlen, einem Rücktritt Merkels und monatelanger Lähmung scheint alles möglich. Die Analyse aus Schweizer Optik.

Steckt Deutschland in einer Staatskrise?

Peter Voegeli, Deutschland-Korrespondent des Schweizer Radios SRF:

"Den Begriff Staatskrise finde ich übertrieben. Der Staat funktioniert noch, und er hat auch Instrumente für diese Krise.

Aber es ist eine politische Krise, die es so in den 68 Jahren der Bundesrepublik noch nicht gegeben hat. Ausgerechnet jetzt ist das wirtschaftlich prosperierende Land über Nacht politisch instabil geworden.

Die Krise hat es deshalb in sich, weil am Ende auch Merkel zurücktreten oder stürzen könnte. Das würde an die Abwahl von Winston Churchill 1946 erinnern: International war er hochgeachtet, zuhause aber wollte man Änderungen."

Was bedeutet die Instabilität für die Schweiz?

Thomas Straubhaar, Schweizer Ökonom, der in Deutschland lebt und forscht, im "Tages-Anzeiger":

"Sehr wenig. Da kann ich Entwarnung geben. Deutschland wird sich wirtschaftlich weiter positiv entwickeln, angesichts der starken Verflochtenheit wird auch die Schweiz davon profitieren.

Dass Europa geschwächt wird, werden wir vielleicht durch einen stärkeren Aufwertungsdruck auf den Schweizer Franken zu spüren bekommen, aber damit haben wir ja gelernt zu leben. Als Schweizer sage ich: kein Grund zur Sorge."

Was bedeutet sie für die deutsche Wirtschaft?

Die "Neue Zürcher Zeitung" schreibt dazu:

"Unsicherheit gilt als Gift für die Wirtschaft, weil sie die Investitionsneigung mindert. Doch Deutschland ist keine Bananenrepublik. Das Grundgesetz sieht ein genaues Prozedere vor, was in den nächsten Wochen zu geschehen hat."

Die Analyse der deutschen "Wirtschaftswoche":

"Die Auftragsbücher der Unternehmen sind sehr gut gefüllt, die Beschäftigung liegt auf Rekordniveau, Waren 'Made in Germany' sind im Ausland gefragt wie nie, der Staatshaushalt weist Milliarden-Überschüsse aus: Das alles spricht für einen anhaltenden Aufschwung - zumal die Europäische Zentralbank (EZB) ihre Nullzinspolitik noch eine ganze Weile fortsetzen dürfte."

Was für die Schweizer Wirtschaft?

Tim Guldimann, ehemaliger Schweizer Botschafter in Berlin und Nationalrat der Sozialdemokratischen Partei im "Tages-Anzeiger":

"Vorderhand noch nichts. Sollte sich die Auseinandersetzung jedoch über Monate dahinziehen, würde sich dies negativ auf die europäische Konjunktur auswirken. Die Schweiz kann nur zuschauen und hoffen."

Thomas Borer, ehemaliger Schweizer Botschafter in Berlin sagt zu swissinfo.ch:

"Ich sehe keine direkten wirtschaftlichen Auswirkungen, abgesehen davon, dass der Euro etwas schwächer werden könnte."

Borer erinnert aber an die Führungsrolle Deutschlands innerhalb der EU. "Eine starke Regierung kann besser intervenieren, wenn etwa die USA den Druck erhöhen, und gerade im Freihandel mit den USA besteht noch Klärungsbedarf."

Wenn man die Perspektive also öffne, könnte die Entwicklung in Deutschland die Schweiz "mittelbar tangieren", sagt Borer.

Was könnten die Konsequenzen für Europa sein?

"Wenn in Deutschland die Europaskepsis wachsen würde, wären die Folgen für Europa gravierend", sagt Gilbert Casasus, Professor an der Universität Freiburg gegenüber dem Westschweizer Sender RTS.

"Merkel war die Angstgegnerin aller Nationalisten in Europa. Diese Rechnung bezahlt sie nun. Wenn sich Deutschland nun auch nur ein bisschen Richtung rechts bewegt, wäre das schwerwiegend, denn der französische Präsident Emmanuel Macron und Angela Merkel haben sich darauf verständigt, Europa neu zu lancieren. Aber wenn sich der Zeiger in Deutschland nur ein bisschen nach rechts bewegt, wird das Macron in grosse Schwierigkeiten bringen, er würde sich als nackter König wiederfinden."

Casasus sieht in der aktuellen Entwicklung auch einen positiven Punkt: "Wenn die FDP nicht Teil der deutschen Regierung wäre, wäre das gut für Europa, denn sie ist sicher die euroskeptischste Partei am Verhandlungstisch."

SRF-Brüsselkorrespondent Oliver Washington sagt: "EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sprach im September von einem 'Window of Opportunity'. Er meinte damit ein Fenster, das sich nach den deutschen Wahlen Ende September öffnen werde, um grosse und wichtige Projekte der EU anzupacken."

Dieses Fenster stehe nun weniger lang offen. "Allerdings kann man derzeit keineswegs von einer Krise der EU sprechen. Eine solche könnte sich aber dann anbahnen, wenn es in Deutschland zu Neuwahlen kommen sollte und auch danach keine handlungsfähige Regierung zustande käme."

Ist das Verhältnis der Schweiz zur EU tangiert?

Tim Guldimann, Ex-Botschafter in Berlin, im "Tages-Anzeiger": "Nein. Das ändert nichts an den Rahmenbedingungen für die Probleme, die wir mit Brüssel lösen müssen."

swissinfo.ch/br  © swissinfo.ch

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