Das Bootsunglück vor Libyens Küste mit hunderten toten Flüchtlingen löst Bestürzung aus. Doch das Problem ist hausgemacht. Europa errichtet Grenzen, an denen mehr Menschen sterben als einst an der Berliner Mauer, sagt "Sea Watch". Weil die EU in Seenot geratenen Flüchtlingen nicht hinreichend hilft, hat die private Initiative nun ein eigenes Rettungsboot ins Mittelmeer geschickt. Mitbegründer Matthias Kuhnt erklärt, wieso Europas Flüchtlingspolitik die Initiative dazu zwingt.

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"Mare Nostrum" hat mehr als 100.000 Flüchtlingen das Leben gerettet. Weil es das Seenotrettungsprogramm nicht mehr gibt, hat die Initiative "Sea Watch" ein eigenes Schiff ins Mittelmeer geschickt. An Bord: freiwillige Helfer wie Ärzte, Sanitäter und Mechaniker, die Flüchtlinge retten wollen. Gründungsmitglied Matthias Kuhnt sprach mit uns über humanitäre Hilfe und die spontane Schweigeminute in der TV-Sendung "Günther Jauch" am Sonntag. Und er fordert, zu "Mare Nostrum" zurückzukehren.

Herr Kuhnt, Harald Höppner hat bei "Günther Jauch" für grosses Aufsehen gesorgt, als er sehr eindringlich um eine Schweigeminute für die vor Libyen verunglückten Flüchtlinge bat. War das unangebracht oder würden Sie es genauso machen?

Die Schweigeminute bei "Günther Jauch" war ein sehr starkes Zeichen und hat sicher einiges an Mut erfordert. Ich bin mir nicht sicher, ob ich ebenfalls dazu in der Lage gewesen wäre.

Mit dem Auftritt hat Höppner den Fokus auch auf Ihre Initiative gelenkt. Wie entstand die Idee, einen alten Fischkutter zum Patrouillenschiff umzubauen und ins Mittelmeer zu schicken?

Anlässlich der Feiern zu 25 Jahre Mauerfall im letzten Jahr ist uns eine Diskrepanz aufgefallen: Einerseits wird nach 25 Jahren immer noch der Abriss einer Grenze gefeiert, andererseits wird etwas Ähnliches nur wenige Kilometer weiter wiedererrichtet. Allein im letzten Jahr sind an europäischen Grenzen, die im Prinzip auch deutsche Grenzen im Schengen-Raum darstellen, mehr Menschen gestorben, als an der Mauer. Deshalb wollten wir etwas unternehmen. Wir haben dann unser Projekt im November 2014 ins Leben gerufen. Mittlerweile ist unser Schiff ins Mittelmeer unterwegs. Ab Mai soll es mit zwischen Malta und Libyen kreuzen.

Werden Sie Flüchtlinge an Bord nehmen?

Nein. Unser Schiff wird keine Flüchtlinge aufnehmen. Wir wollen eine Lücke schliessen, die die EU in den letzten Jahren hinterlassen hat.

Sie sprechen damit das Projekt "Triton" an?

"Triton" ist der Nachfolger von "Mare Nostrum" und völlig unzureichend. Mit dem Projekt patrouilliert man noch genau bis zwölf Meilen an der italienischen Küste entlang. Das ist weit entfernt von dem Gebiet, wo die Schiffe untergehen. Die Notfälle werden im Zweifelsfall nicht mehr entdeckt.

Unserer Auffassung nach hat "Triton" einen politischen Hintergrund. Die EU versucht damit Flüchtlinge abzuschrecken. Die Menschen sollen erst gar nicht hoffen, im Mittelmeer gerettet zu werden, falls sie in Seenot geraten. Es soll signalisieren, dass das eher unwahrscheinlich ist. Auf den Punkt gebracht, ist die Flüchtlingspolitik der EU eine Politik auf der Grundlage von Leichen. Das ziemt sich nicht für Deutschland und die EU, die hohe humanitäre Werte vertreten. Da muss etwas passieren. Da muss sich etwas ändern.

Schiebt die EU die Verantwortung also ab?

Ja. Die Europäische Union schiebt momentan die Verantwortung auf die zivile Schifffahrt ab. In dem Gebiet fahren viele grosse Schiffe. Aber die haben nicht die Funktion, die Seenotrettung zu ersetzen, die die EU momentan verweigert. Das, was am Sonntag passiert ist, war etwas, das genau daraus resultiert hat. Ein Handelsschiff ist zur Hilfe gekommen und hat ohne ausreichende Kenntnis eine Rettung initiieren wollen und es kam zum Unfall.

Was sind Ihre Forderungen?

Es gibt drei wesentliche Punkte, die wir bemängeln und aus denen sich Forderungen ergeben. Zum einen möchten wir, dass das Programm "Mare Nostrum" wieder aufgenommen oder etwas Ähnliches initiiert wird. Die Rettung muss im Vordergrund stehen, die Suche nach in Seenot geratenen Flüchtlingen muss wieder in professionelle Hände gegeben werden. Wir fahren da nur hin, weil da sonst niemand ist. Unser Projekt wäre nicht nötig, wenn es von der EU etwas Derartiges gäbe.

Zum anderen wollen wir darauf hinweisen, dass Flüchtlinge unbedingt legale Fluchtwege brauchen. Menschen, die in Deutschland Anspruch auf Asyl haben, sind bisher gezwungen, auf illegalem Weg in die Bundesrepublik zu kommen. Das passt nicht zusammen.

Was wir ausserdem kritisieren, ist die bestehende Drittstaatenregelung. Danach müssen Flüchtlinge in dem Land bleiben, in dem sie ankommen. Da muss es eine Reform geben. Es kann nicht sein, dass Länder wie Italien alle Flüchtlinge aufnehmen sollen. Das ist nicht zeitgemäss. Es gibt zwar Flüchtlinge, die in unser Land kommen – allerdings illegal. Jemand, der legal in Deutschland einreisen möchte, müsste es über den Seeweg versuchen.

Haben Sie Hoffnung, dass die EU schnelle Lösungen findet?

Ich habe grosse Hoffnung, dass die EU hinsichtlich der Seerettung schnell handelt, dass da jetzt Bewegung reinkommt. Was die politische Seite betrifft – also legale Wege für Flüchtlinge zu schaffen oder die Dreistaatenregel zu reformieren –, da bin ich eher pessimistisch. Kurzfristig wird es da eher keine Lösung geben.

Wie können Sie mit Ihrem Boot Hilfe leisten beziehungsweise ersetzen?

Wir wollen direkt dort sein, wo die Unfälle passieren und die Küstenwache informieren. Das heisst: Wir leiten die Rettung ein. Wir werden mit unserem Boot genau in dem Seegebiet sein, wo die Flüchtlingsboote üblicherweise langfahren.

Wie erfahren ist die "Sea-Watch"-Crew?

Das Boot wird immer professionell besetzt sein. Zur vier bis acht Mann starken Besatzung gehören ein Kapitän, Mechaniker, Ärzte, Sanitäter aus der Notfallrettung, die ehrenamtlich für eine Zeit von mindestens 14 Tagen Aufgaben an Bord übernehmen.

Was kostet die Hilfe auf See und wie lange ist der Einsatz geplant?

Die Unterhaltung des Schiffes inklusive der Betriebskosten beträgt etwa 20.000 Euro im Monat. Für die ersten Monate haben wir private Mittel aufgebracht. Inzwischen finanziert sich das Projekt auch durch Spenden. Es ist vorerst bis Oktober angesetzt. Das Schiff ist zwar hochseetauglich, aber die Wetterlage wird ab Mitte Oktober nicht mehr so stabil sein. Offen ist noch, wie es nächstes Jahr weitergehen wird.

Sie werden keine Flüchtlinge an Bord nehmen und transportieren. Ist das realistisch? Was tun Sie, wenn die herbeigerufene Hilfe so schnell nicht eintrifft?

Wir haben etliche Rettungsmittel an Bord. Dazu gehören Schwimmwesten und Rettungsinseln für mehr als 500 Menschen. Damit lässt sich bei akuter Seenot eine schnelle Rettung einleiten. Darüber hinaus kann es sein, dass es medizinische Notfälle gibt. In diesem Fall werden wir uns an internationales Seerecht halten, dass ganz klar regelt, wie in solchen Situationen zu handeln ist. Unser Kapitän entscheidet situationsbedingt. Das heisst, er hat von uns keinerlei Vorgaben.

Wenn also angenommen werden muss, dass ein Boot durch eine ernste und unmittelbare Gefahr bedroht ist und sofortiger Hilfe bedarf, werden wir den Notfall melden. Und gegebenenfalls mit Schwimmwesten und Schwimminseln helfen. Wenn allerdings ein Boot mit Flüchtlingen sinkt, können wir nicht ausschliessen, auch Personen an Bord zu nehmen.

Wer steckt hinter "Sea Watch"?

Ursprünglich waren an der Gründung des Projektes vier Familien beteiligt. Mittlerweile unterstützen "Sea Watch" mehr als 300 Menschen. Menschen die auf dem Schiff helfen wollen, die uns juristisch unterstützen oder mit technischer Ausrüstung und Beratung helfen.

Sind weitere Schiffe geplant?

Nein, vorerst nicht. Sollte sich das Projekt allerdings so entwickeln, dass wir eine Notwendigkeit sehen, und finanziell dazu in der Lage sind, könnte das gut möglich sein. Wir erhoffen uns allerdings, dass unsere Initiative in Anbetracht der katastrophalen Situation für flüchtende Menschen Nachahmer findet. Im Mittelmeer fahren viele private Schiffe. Sie alle wollen wir auch ein bisschen dafür sensibilisieren, mit die Augen offen zu halten. Auch mit beschränkten Mitteln ist man nicht ohnmächtig. Das heisst, jeder hat Kommunikationstechnik an Bord, kann also Hilfe rufen, wenn jemand in Not ist.

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