Frau Merkel schone den türkischen Präsidenten Erdogan, glauben die einen. Ganz im Gegenteil, sie verhalte sich nicht anders als sonst, betont ein Vertrauter. Und ein türkischer Gast glaubt, dass Deutschland ohnehin die Türkei nicht zu kritisieren habe. Die Talk-Sendung "Anne Will" erzählte am Sonntag viel über das komplizierte deutsch-türkische Verhältnis.

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"Warum schafft ihr denn dann den Paragraphen nicht gleich ab?", poltert der grüne Parteivorsitzende Cem Özdemir los. "Das ist doch absurd", geht er den Kanzleramtschef Peter Altmaier an, "zu sagen, einmal darf man noch, und dann schaffen wir ihn ab".

Sei das nicht schon ein Kuschen vor Erdogan? Ein Festhalten an einem veralteten Gesetz, um den neuen Partner in der Flüchtlingskrise nicht zu vergrätzen?

"Überhaupt nicht", entgegnet der Kanzleramtschef. Nur, "wir leben in einem Rechtsstaat". Da könne man gerade nicht einfach Paragraphen abschaffen, wenn sie einem nicht passen.

Deshalb habe die Kanzlerin entschieden, dass erst nach der Verhandlung des Böhmermann-Falls vor den Gerichten die umstrittene Rechtsgrundlage geändert wird.

Cem Özdemir vs. Peter Altmaier

Der Streit zwischen Cem Özdemir und Peter Altmaier bei "Anne Will" zeigt bereits zu Beginn das Problem der Fragestellung. Ob Frau Merkel wirklich seit dem Flüchtlings-Abkommen davor zurückschreckt, den türkischen Präsidenten Erdogan öffentlich in Menschenrechtsfragen zu kritisieren, ist nämlich gar nicht so leicht zu beantworten.

Während Peter Altmaier überhaupt keine Veränderung in Merkels Verhalten gegenüber der Türkei erkennen will, glaubt Özdemir fest daran, "dass der Preis für dieses Abkommen zu hoch ist".

"Die Kanzlerin war in den letzten zehn Jahren so oft in der Türkei wie in kaum einem anderen Land", redet sich der grüne Politiker in Rage. Es sei einfach unglaubwürdig, dass es da "niemals eine Gelegenheit gegeben haben soll, Oppositionelle zu treffen. "Da gibt es einfach überhaupt keine Rechtfertigung für".

Zumal Merkel bei ihren Moskau-Besuchen auch keine Scheu habe, "zum Beispiel zehn Minuten im Hotel" mit Regime-Kritikern zu sprechen. Aber genau das tue sie einfach nicht, stimmt auch Selmin Çalışkan dem Grünen zu. "Sie kritisiert Erdogan überhaupt nicht", betont die Leiterin von Amnesty International Deutschland.

Anne Wills Runde ist sich einig - fast

Doch genau das tue sie auch weiterhin, entgegnet Altmaier. Nur eben nicht öffentlich, weil eine solche "Symbol-Politik niemanden etwas nützt".

Diese offensichtliche Ausflucht geht neben Özdemir auch Martin Schulz zu weit. "Die Meinungsfreiheit ist kein Verhandlungsgegenstand, sondern die Verpflichtung einer jeden demokratisch gewählten Regierung", betont der Präsident des Europäischen Parlaments. Die Bundesregierung müsse als Staat der Türkei offen sagen, "dass der Schaden, der für das Land entsteht", dramatisch sei.

"Wer 2.000 Journalisten mit Klagen überzieht, der verspielt jeden internationalen Kredit", sagt Schulz, der sich ansonsten mit Özdemir, Altmaier und Çalışkan einig ist. Die Türkei verdient Kritik, die Frage ist nur, wann und wo die am besten geäussert werden soll.

Alle gegen den türkischen Abgeordneten

Der Abend könnte zu Ende sein, wenn da nicht der in Deutschland lebende Abgeordnete der türkischen Nationalversammlung wäre.

Mustafa Yeneroğlu ist Abgeordneter von Erdogans AKP. Merkel stehe es überhaupt nicht zu, die Türkei zu kritisieren, glaubt der türkische Politiker. Die Debatte erscheine, "als ob man hier glaube, dass man die Menschenrechte für sich gepachtet habe", kritisiert Yeneroğlu alle anderen Gesprächspartner.

Dabei habe man in Deutschland "mit ganz ähnlichen Problemen wie in der Türkei" zu kämpfen. Yeneroğlu verweist auf Anschläge auf Moscheen in Deutschland, brennende Flüchtlingsunterkünfte und Probleme mit der Integration. Auch in punkto Pressefreiheit sehe es in Deutschland gar nicht viel anders aus als in der Türkei.

Diese überraschende These ruft heftigen Widerspruch bei Özdemir hervor. "Der Unterschied zwischen einem türkischen Journalisten und Ihnen, Frau Will, ist: Sie machen ihren Job - und am nächsten Tag haben sie ihn auch noch".

Mustafa Yeneroğlu: "diese Arroganz"

In der Türkei werde jeder Erdogan-Kritiker kriminalisiert. "Wir wissen doch, wie das läuft, da kommt ein Räumkommando und das war's", geht Özdemir den türkischen Abgeordneten an. Der fühlt sich offensichtlich persönlich gekränkt und legt nach. "Warum soll man sich immer an Deutschland orientieren, das ist genau die Arroganz von der ich die ganze Zeit spreche".

Über Arroganz sprechen will auch Martin Schulz. "Ich glaube, ihr Land braucht die EU mehr als die Türkei, weil sie sich bereits jetzt international völlig isoliert haben". Die Beziehungen mit Israel: "auf dem Nullpunkt. Die Beziehungen zu Russland: auf dem Nullpunkt". Über die Beziehungen mit den Nachbarn brauche man gar nicht zu reden.

"Der einzige Partner, der zuverlässig an ihrer Seite steht, ist die EU. Deshalb sollten ihr Land und übrigens auch Sie nicht auf die Angebote der EU mit Arroganz antworten", betont Schulz und entscheidet mit seiner Anklage das Rededuell für sich.

Allerdings um den Preis eines gekränkten türkischen Gesprächspartners, dem es argumentativ nicht gelingt, ein Teil der Runde zu werden.

So ist der Abend auch ein Lehrstück über die (Un-)Möglichkeiten der Diplomatie.

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