Steht der Ukraine eine russische Invasion bevor? Bei "Anne Will" wirft der ukrainische Botschafter der Regierung vor, den Ernst der Lage nicht erkannt zu haben. Eine US-Journalistin stellt Annalena Baerbock in den Senkel und kritisiert Deutschland als unsicheren Bündnispartner. Jürgen Trittin ätzt derweil gegen die Gastgeberin.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht des Autors dar. Hier finden Sie Informationen dazu, wie wir mit Meinungen in Texten umgehen.

Mehr aktuelle News

Alleingelassen im Konflikt gegen den übermächtigen Nachbarn Russland – so sieht sich die Ukraine derzeit. Bei "Anne Will" richtet der Botschafter in Berlin, Andrij Jaroslawowytsch Melnyk, dramatische Worte an die Ampel-Regierung und an die Zuschauer.

"Worte oder Waffen - wo steht Deutschland im Ukraine-Konflikt?", unter diesem Titel diskutiert die Runde die Haltung der Regierung, die Kanzler Scholz am Vorabend im ARD-Interview noch einmal betont hatte: wirtschaftliche und politische Sanktionen ja, Waffenlieferungen nein.

Das sind die Gäste bei "Anne Will"

Der ukrainische Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, greift zu martialischen Worten: "Es geht um alles, Frieden oder Krieg, Sein oder Nichtsein. (…) Entweder Sie sind für uns, oder gegen uns." Er fordert die Regierung auf, Waffen zu liefern – und wendet sich sogar mit einem Appell an das Publikum: "Bitte helfen Sie uns, den Kurs der Regierung zu ändern."

"Putin muss wissen, dass eine Invasion für ihn zum Desaster wird", sagt die Historikerin und Publizistin Anne Applebaum. Auf Deutschland könne sich die Ukraine allerdings wohl nicht verlassen – wie man an der Weigerung Berlins sehe, das Land mit Waffen zu versorgen.

SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert wehrt sich gegen den Eindruck, Deutschland sei ein "unsicherer Kantonist": "Es ist keine Neuigkeit, dass wir keine Waffen in Kriegsgebiete liefern. Gleichzeitig stehen wir klar an der Seite des ukrainischen Volkes."

"Glaubt man, mit Waffenlieferungen auf den letzten Drücker Putin abschrecken zu können?", fragt Jürgen Trittin rhetorisch. Weil es keinen militärischen Hebel gebe, setzt der aussenpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag lieber auf Abschreckung durch "wirtschaftliche und politische Sanktionen".

Ähnlich sieht das Dietmar Bartsch, Fraktionschef der Linkspartei. Waffen würden "ja nicht als Ansichtsexemplare" geschickt, sondern benutzt – und das helfe eher nicht gegen Kriege. "Unsere Aufgabe ist Deeskalation."

ARD-Korrespondentin Ina Ruck ist unschlüssig, was Putins Motive sind. In einem Punkt ist sie sich aber sicher: "Er hat die Herzen der Ukrainer verloren (…). Selbst die, die immer gute Beziehungen zu Russland wollten, sind entsetzt."

Das ist der Moment des Abends

Otto von Bismarck wird der schöne Satz zugeschrieben, dass nirgends so viel gelogen wird wie vor den Wahlen, während des Krieges und nach der Jagd. Nun befinden wir uns glücklicherweise noch nicht in einem Krieg, aber in der Ukraine-Krise auf vermintem Terrain, was die Wahrheitsfindung zumindest sehr erschwert. Gutes Beispiel, wenn auch nur ein Detail am Rande: die 5.000 Helme, die Deutschland der Ukraine schicken möchte.

"Ein schöner Schenkelklopfer", mault SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert, der sich ja viel auf Twitter herumtreibt und mit den unzähligen Sprüchen und Memes zum Thema vertraut sein dürfte. "Aber wenn ich recht informiert bin, ist das ein Teil der Anforderungen der ukrainischen Regierung (…)." Hat das Verteidigungsministerium also einfach nur geliefert wie bestellt?

"Da und dort" will Gastgeberin Anne Will gelesen haben, dass Kiew eigentlich hunderttausende Helme bräuchte – was denn nun stimme, will sie vom Botschafter Melnyk wissen. Die Liste der benötigten Ausrüstungen liege seit Monaten vor, antwortet der, was Will nicht reicht: "Haben sie jetzt hunderttausend Helme geordert?" Im Prinzip schon, sagt Melnyk - jedenfalls habe er das in der Presse immer betont. In der Presse also, wiederholt Will mit hochgezogenen Augenbrauen. Doch nicht so einfach, die Geschichte mit den Helmen.

Das ist das Rede-Duell des Abends

So ein Blick von aussen kann ganz schön weh tun. Vor allem, wenn er von einer scharfzüngigen Pulitzer-Preisträgerin wie Anne Applebaum serviert wird. "Deutschland wird als Land gesehen, das gern Geschäfte macht und seine Geschichte als Ausrede nutzt", sagt die US-Amerikanerin, die auch einen polnischen Pass besitzt und deswegen, wie sie betont, aus amerikanischer, aber auch aus europäischer Sicht spricht.

Applebaum wirft Deutschland Doppelmoral vor, Annalena Baerbocks Verweis auf die Lehren aus der eigenen Geschichte empfindet sie als "verwirrend". Dabei sei die Lehre doch klar: Schon einmal sollte die Ukraine zerstört werden, damals von Deutschland, "das sollte nicht noch einmal passieren". Die Haltung Berlins fasst Applebaum so zusammen: "Deutschland ist nicht willens, die Ukraine zu verteidigen."

Was auch sehr weh tun kann: ein Reality Check, hier verabreicht von Jürgen Trittin, der Applebaum vor allzu harten Urteilen warnt – und daran erinnert, dass andere Länder Waffen schicken mögen, mehr aber auch nicht. "Weder Briten noch die USA werden militärisch aktiv werden. Es wird keine militärische Antwort des Westens geben."

So hat sich Anne Will geschlagen

Wo Jürgen Trittin einmal in Fahrt ist, lädt der Grüne auch gleich mal seinen Frust über den Sendungstitel bei der Gastgeberin ab. "Worte oder Waffen", da spiegele sich das "Kleinreden" der diplomatischen Bemühungen der Regierung, schimpft Trittin. "Das sind mehr als nur Worte."

Auch SPD-Mann Kevin Kühnert mosert sich durch die Antworten auf einige hartnäckige Fragen Wills zur unklaren Positionierung des Bundeskanzlers Olaf Scholz – und bestätigt damit eine alte Faustregel: Wenn den Regierenden die Fragen nicht gefallen, haben die Journalisten ihren Job richtig gemacht.

Das ist das Ergebnis

Immerhin beeindruckt Kühnert mit einer minutiösen Wiedergabe der Reisepläne von Annalena Baerbock und Olaf Scholz. Wer angesichts dieser Bemühungen glaube, der Kanzler habe die Dramatik des Konflikts nicht erkannt, so Kühnert, der "kommentiert nicht in guter Absicht, sondern versucht, das deutsche Engagement zu diskreditieren."

Nur stellt sich die Dramatik vielleicht etwas anders dar, wenn 100.000 russische Soldaten nur 100 Kilometer von der Hauptstadt entfernt aufmarschiert sind. So gesehen verwundert es vielleicht nicht, wenn der ukrainische Botschafter Melnyk Deutschland trotz der diplomatischen Bemühungen noch im "Dornröschenschlaf" sieht. Die Ukraine sei derzeit "leichte Beute" für Russland. Wirklich etwas ändern würden daran wahrscheinlich auch Waffenlieferungen aus Deutschland nichts – allerdings schwebt Melnyk noch etwas anderes vor: ein sofortiger Beitritt zur NATO. "Ich denke schon, dass das einen neuen Krieg verhindern würde." Aber auch Melnyk weiss: Das wird nicht passieren. Es wird einen anderen Weg geben müssen, auch wenn der an diesem Abend noch im Dunklen bleibt.

Mehr aktuelle News finden Sie hier

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.