Zu undifferenziert, zu spät: Zwei Corona-Experten kritisieren bei "Anne Will" den "Wellenbrecher-Lockdown" - geraten dann aber aneinander. Markus Söder nennt die Massnahmen alternativlos, und ein Jazz-Musiker grillt Merkels rechte Hand.

Eine Kritik

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Die wichtigste Nachricht zuerst: Alle Gäste sind brav sitzen geblieben an diesem Sonntagabend nach "Anne Will" - vergangene Woche hatte die Runde im Abspann ja auf den Corona-Abstand gepfiffen und damit ein Shit-Stürmchen losgetreten, Moderatorin Anne Will entschuldigte sich öffentlich. Dieses Mal also keine Bewegung, bis die Regie endgültig ausblendete, und damit kein Skandälchen - aber dafür war in der Stunde vorher jede Menge Feuer unter der Studiodecke.

Was ist das Thema bei "Anne Will"?

Mal angenommen, Sie hätten die letzte Woche in einer Art Nachrichten-Lockdown verbracht und für Ihren Wiedereinstieg um 21.45 Uhr die ARD eingeschaltet, Anne Will hätte Sie in wenigen Worten auf Stand gebracht: "Alles was Freude macht, hat zu. Vier Wochen lang". Über Sinn und Zweck des "Wellenbrechers" diskutierte Will mit ihrer Runde unter dem Titel: "Vier harte Wochen – wie nachhaltig wirken die Anti-Corona-Massnahmen?"

Wer sind die Gäste?

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) begründet den Lockdown light mit der Logik, die auch Grossbritanniens Premier Boris Johnson gerade bemüht hat: There is no alternative. "Wir riskieren sonst einen medizinischen Notstand, wir müssen die Kontakte reduzieren." Die Wirkung werde aber erst in zwei Wochen einsetzen: "Erstmal werden die Zahlen ansteigen, gerade wenn ich sehe, wie viel gefeiert wurde am Wochenende."

Was ist das Ziel? Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) hat darauf eine sehr konkrete Antwort: "Wir müssen bei der Inzidenz auf unter 50 [pro 100.000 Einwohner] kommen bundesweit." Bei dieser Marke sei die Kontaktnachverfolgung wieder möglich. Mitte November würden erneut Gespräche mit den Ministerpräsidenten abgehalten – verfrühte Lockerungen hält Braun aber für "unwahrscheinlich".

Bis dahin, das zeigt die Erfahrung vor allem mit dem Beherbergungsverbot, könnten Gerichte einige Massnahmen auch schon wieder kassiert haben. Ex-Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) sieht hier Nachholbedarf: "Es braucht klarere Gesetze, das hätte man im Sommer vorbereiten können." Was es nicht brauche: Regieren per Verordnung, wie es Jens Spahn vorschwebt.

Der Mediziner Stefan Willich von der Charité Berlin nennt Kontaktbeschränkungen zwar den "Goldstandard", bezweifelt aber die langfristige Wirkung. "Wir werden noch ein, zwei, drei Jahre mit dem Virus leben müssen und tun gut daran, uns langfristig darauf einzustellen, souverän und nicht mit Drama und Angst zu reagieren." Er hätte die Massnahmen lieber differenziert – nach Regionen und nach gesellschaftlichen Bereichen. Theater mit Hygienekonzept zu schliessen und Sport im Freien zu verbieten, das ergebe keinen Sinn.

Physikerin Viola Priesemann bringt den Begriff des "Reset" in die Debatte: "Die Situation ist ausser Kontrolle, jetzt können wir neu starten." Das Problem sei allerdings: Niemand wisse genau, was es bringe, Restaurants zu schliessen, die Kultur runterzufahren, eventuell Schulen dichtzumachen.

Jazz-Musiker Till Brönner hat seinem Ärger vor einigen Tagen auf Facebook Luft gemacht, verflogen ist er nicht: "Die ganze Kulturbranche liegt seit März flach." Er selbst habe nur 3 Konzerte gegeben seitdem, aber ihm gehe es noch gut – im Gegensatz zu vielen der 1,5 Millionen Menschen in der Branche: "Die sind am Ende, die sind auf Hartz IV."

Was ist das Rede-Duell des Abends?

Das nennt man wohl ein Gigantenduell: Bei "Anne Will" prallen zwei gegensätzliche Ansätze in der Pandemiebekämpfung aufeinander - die Leiterin der Forschungsgruppe Theorie neuronaler Systeme am Max-Planck-Institut votiert vehement für ein radikales Absenken der Neuinfektionen, der Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie für die Konzentration auf den Schutz der Risikogruppen.

Das Modell Neuseeland, das Viola Priesemann ins Gespräch bringt, hält Stefan Willich für "Wunschdenken", das im theoretischen Modell attraktiv, aber praktisch nicht umsetzbar sei. "Wir werden uns an die hohen Zahlen gewöhnen müssen." Wichtig sei der Blick auf die Auslastung der Intensivmedizin, die Zahl der Neuinfektionen sei unerheblich, "weil sie für viele nicht so gefährlich sind".

"Da möchte ich massiv widersprechen", kontert Priesemann. Es gehe um Kontrolle über das Infektionsgeschehen - "wenn wir die verlieren, gehen nicht nur die Fallzahlen hoch, sondern auch der R-Faktor." Die Forscherin zeigt sich zwar "beeindruckt", wie gut die Politik mittlerweile begriffen habe, was exponentielles Wachstum bedeute. Das Lob ist aber vergiftet, denn eingegriffen wurde zu spät: "Hätten wir vor drei Wochen angefangen, hätten wir es in den betroffenen Landkreisen regeln können. Vor zwei Wochen hätten wir nur zwei Wochen in den Lockdown gehen müssen."

Was ist der Moment des Abends?

Die Gastronomen und Kulturschaffenden machen im November dicht für die Gesundheit, dafür ersetzt der Staat 75 Prozent des Umsatzes – das ist der Deal, den Kanzleramtsminister Helge Braun an diesem Abend als "fair" verkaufen möchte.

Mit Till Brönner ist er da aber an den Falschen geraten: Lange Zeit wurden nur Betriebskosten ersetzt, die Solo-Selbstständige einfach nicht haben, und die Hilfszahlungen für den November sind schön und gut, aber "wir haben seit acht Monaten Lockdown", wettert der Jazz-Musiker. Und der gehört noch zu den privilegierten Vertretern der Branche – Braun kann von Glück reden, dass er nicht neben Brönners Roadie sass.

Wie hat sich Anne Will geschlagen?

Die Gastgeberin kann sich an diesem Abend immer wieder vornehm zurückhalten, die Gäste wuppen die Sendung fast allein. Die wichtigsten Fragen aber stellt sie dann doch höchstselbst: Was passiert eigentlich, wenn die Zahlen einfach nicht fallen wollen? Und wenn doch – was ist der langfristige Plan?

Was ist das Ergebnis?

Um eine Antwort drückt sich Markus Söder herum, Bayerns Ministerpräsident flüchtet sich in Optimismus, noch nie habe es so schnell Therapien und Forschung zu Impfstoffen gegeben. Bis zum grossen Durchbruch müssten einfach "alle mitmachen", und da "hilft nur der Appell" - und sicherheitshalber die strafbewehrte Corona-Gesetzgebung, was Söder unerwähnt liess.

In Wahrheit haben die Leute kaum eine andere Wahl als zur Arbeit zu fahren, sich im Zweifel im stickigen, überfüllten Bus der Infektionsgefahr auszusetzen - und auf das Feierabendbier unterm Heizpilz vorm Stammlokal zu verzichten. Weil die Politik "irgendwo ansetzen musste", wie Helge Braun es freimütig formuliert. Und das offensichtlich mehr in der Hoffnung als im Wissen, dass sich die Zahlen in die gewünschte Richtung bewegen.

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