Schwer erträgliche persönliche Schicksale, harte Vorwürfe – und mittendrin ein Kirchenmann, der den Missbrauchsskandal erklären muss. "Maischberger" schafft den schwierigen Spagat zwischen Emotionen und Erkenntnisgewinn.

Eine Kritik

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Es war natürlich nur ein blöder Zufall, aber einer, den man durchaus bedauern kann: Ausgerechnet in dieser Woche verdrängte der Spielplan der Fussball-Bundesliga "Maischberger" auf einen noch späteren Sendeplatz als gewohnt, erst eine Viertelstunde vor Mitternacht startete die Sendung, nach der "Sportschau".

Wer vor der vorgerückten Stunde kapitulierte, verpasste eine Erinnerung daran, was eine gute Talkshow leisten kann: Aufklärung, Einordnung und Emotionen. Und das bei einem Thema, das viel Fingerspitzengefühl erfordert und alle Beteiligten fordert – Gäste, Moderatorin und Publikum.

Das war das Thema

Durchgesickert waren die Ergebnisse schon vor Wochen, nun hat die Bischofskonferenz am Dienstag auch offiziell die sogenannte MHG-Studie vorgestellt, der komplette Titel: "Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz".

Hinter dem komplizierten wie technischen Titel tun sich erschreckende Zahlen auf: 3.677 Kinder und Jugendliche wurden im Zeitraum von 1946 bis 2014 missbraucht, 1.670 Kleriker werden als Beschuldigte geführt, etwa jeder zwanzigste Priester. Und das ist nur "die Spitze des Eisbergs", wie die Studienautoren erklärten. Die Dunkelziffer wird als weitaus höher eingeschätzt.

Sandra Maischberger wollte an diesem sehr späten Mittwochabend unter der Überschrift "Missbrauch in der Kirche: aufklären oder vertuschen?" die Zahlen zum Sprechen bringen, Geschichten hinter der Statistik erzählen und die Frage nach den Ursachen klären.

Diese Gäste diskutierten mit Sandra Maischberger

Alle gegen Einen – in diese Konstellation hat die Redaktion den Trierer Bischof Stephan Ackermann geschickt, der als Missbrauchsbeauftragter der katholischen Kirche allerdings seit acht Jahren mit dem Thema und mit heftigen persönlichen Vorwürfen konfrontiert ist.

Die "Süddeutsche" nannte ihn "das Gesicht der überforderten Kirche", und wenn man diese Zuschreibung wörtlich nimmt, sah es bei "Maischberger" so aus: traurig, verzweifelt, erschöpft und ein wenig ratlos. "Ich dachte 2010, das Thema ist in zwei Jahren erledigt", sagte Ackermann, der stets geduldig zuhörte und nie abwiegelte. "Aber es gehört seitdem zu jedem Tag, und es erschüttert mich immer wieder."

Selten agierte ein Talkshowgast so aus der Defensive wie Ackermann, was sollte er aber auch tun, angesichts der Studie, und angesichts der Wucht der Erzählungen von Missbrauchsopfer Claudia Mönius, die ihr fünf Jahre währendes Leid unter einem Pfarrer in bitteren Details schilderte.

BAP-Sänger Wolfgang Niedecken wurde in den 60er Jahren in einem katholischen Internat missbraucht, hat die schlimmen Erfahrungen aber gut verarbeitet, wie er sagte – und trotzdem mit der Kirche gebrochen.

Matthias Katsch, Sprecher des Betroffenenverbands "Eckiger Tisch" und Ex-Schüler am Canisiuskolleg, konfrontierte Ackermann immer wieder mit Beispielen aus anderen Ländern, in denen die Aufarbeitung schon weiter ist und besser gemacht wird als mit der Studie der Bischofskonferenz.

Die Frage nach der persönlichen Verantwortung der Bischöfe stellte die Journalistin Christiane Florin, wie auch schon bei der Pressekonferenz am Dienstag, Videos davon lassen sich leicht auf Youtube finden: Es ist die allerletzte Wortmeldung, Florin erhält das Mikrofon und will wissen, ob von den über 60 versammelten Bischöfen auch nur einer gesagt habe, er habe persönliche Schuld auf sich geladen und könne das Amt nicht mehr ausüben. Die kurze Antwort von Kardinal Reinhard Marx: Nein.

Das war der Schlagabtausch des Abends

"Ich platze gleich", sagte Claudia Mönius, als Stephan Ackermann die Leitlinien der Kirche bemühte, um den korrekten Umgang mit Missbrauchsvorwürfen zu erklären. "Es ist so unglaublich technisch. Wo bleibt das Herz? Ich finde, ihr macht unsere Religion kaputt!"

Zwei Ansätze prallten hier aufeinander: Hier die Frau, die sich mühsam klar machen musste, was ihr als jungem Mädchen widerfahren ist.

Und die nun darüber spricht, so offen spricht, dass es der Runde sichtbar schwer fiel, anzuknüpfen an die detaillierten Schilderungen der perfiden Spiele eines Pfarrers, der sich an einer Elfjährigen verging.

Und dort der Mann, der als Prellbock herhalten muss, seit acht Jahren, und vielleicht auch deswegen redet wie ein Unfallgutachter, von Leitlinien, Datenschutzbedenken und innerkirchlichen Disziplinarverfahren. Wo das Herz geblieben ist, darauf hatte er keine Antwort.

So hat sich Sandra Maischberger geschlagen

So demütig Ackermann sich gab, so sehr ist er Medienprofi geworden über die Jahre. Aber Sandra Maischberger wollte es ihm nicht einfach machen an diesem Abend.

"Warum hat die Kirche so lange gebraucht?", lautete ihre erste Frage, immer wieder kam sie darauf zurück, wie lange es gedauert hat vom Schock um die Enthüllungen über das Canisius-Kolleg 2010 bis zur Studie und nun bis zur Veröffentlichung.

Warum die Autoren keinen freien Zugang zu den Archiven hatten, warum die Kirche nicht die Staatsanwaltschaft einlädt, all diese Kritikpunkte ersparte sie Ackermann nicht. Anders als der Kirchenmann schaffte sie auch den Spurwechsel vom technischen Verfahren zu den persönlichen Geschichten von Mönius, Katsch und Niedecken.

Sie hakte nach, bis Niedecken seine Erfahrungen preisgab. Er berichtete vom Missbrauch und Schlägen und der anschliessend erzwungenen Beichte: "Es war der perfekte Psychoterror!“

Maischberger sie las auch die Antwort der Kirche auf einen persönlichen Brief von Mönius vor – und holte so die abstrakte Rede von der Paralleljustiz der Kirche ins Studio. Mönius‘ Peiniger wurde von der Eucharistie ausgeschlossen, "die härteste Bestrafung für einen Priester", wie es in dem Brief hiess.

"Ich bin ein bisschen fassungslos", sagte Maischberger, blieb aber nicht in der Empörung hängen, sondern fragte lieber, was der Staat unternehmen kann, um härtere Strafen zu erreichen.

Emotionen und Erkenntnisinteresse – Maischberger fabrizierte an diesem Abend eine gesunde Mischung.

Das sind die Erkenntnisse

"Das ist der Anfang", sagte Maischberger am Ende der Sendung. Ein Satz, viele verschiedene Auslegungen: Für die Gastgeberin war es eine Feststellung, sie kündigte an, die Reaktion der Kirche genau zu beobachten.

Für Bischof Ackermann war es immer wieder eine Rechtfertigung, die Kritik zu beschwichtigen. Für Katsch, Mönius und Florin war es eher eine Anklage. Ihnen geht es nicht schnell genug, nicht weit genug. Vor allem Ackermanns Versuch, das Problem bei Einzelpersonen zu verorten, stiess auf vehementen Einspruch.

"Es geht nicht um bessere, heilige Menschen", sagte Betroffenensprecher Matthias Katsch. "Warum steht die Null-Toleranz-Politik nicht im Kirchenrecht? Warum beteiligen sie Laien nicht, warum involvieren sie Frauen nicht?"

Noch immer hat die deutsche Kirche kaum konkrete Schritte gesetzt, um dem Missbrauch systematisch zu begegnen, das wird an diesem Abend deutlich. Noch immer will sie die Dinge unter sich regeln, oder in Rom.

Noch immer schreckt sie vor elementaren Fragen wie dem Zusammenhang zwischen Zölibat, unterdrückter Sexualität, der Machtstellung der Priester und Missbrauch zurück. "Diese Studie ist noch keine Aufarbeitung", sagte Stephan Ackermann entschuldigend.

Aber selbst die Studie, legte die Journalistin Christiane Florin dar, ist alles andere als befriedigend: Akten verschwanden, wurden manipuliert, nirgendwo tauchen Hinweise auf Bistümer auf, die Rückschlüsse zulassen auf eventuelle Täternetzwerke.

Ihr Fazit: "Es ist unglaubwürdig, wenn sich die Kirche jetzt als Aufklärer feiern lässt." Es ist nur ein Anfang.

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