Im Wahlkampf war der Pflegenotstand eins der grossen Themen. Maybrit Illner widmete dem Thema nun ein Spezial. Dabei geriet Bundesgesundheitsminister Jens Spahn unter Druck. Er vermied es jedoch, blumige Versprechungen zu machen.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Thomas Fritz dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Warum leistet sich ein reiches Land wie Deutschland eine Pflege, bei der die Pflegebedürftigen und Pflegenden so arm dran sind? Diese Frage wollte Maybrit Illner mir ihren Gästen unter dem Motto "Ist die Pflege noch zu retten?" klären.

Mehr aktuelle News finden Sie hier

Gleich zu Beginn ein emotionaler Einblick. Einer der bekanntesten Pflegefälle des Landes ist Rudi Assauer, früherer Manager des Fussball-Bundesligisten Schalke 04. Seine Tochter Bettina Michel (52), die Assauer zuhause betreut, gab Auskunft zu seinem aktuellen Gesundheitszustand. Ihrem Vater gehe es "den Umständen entsprechend, wobei das letzte halbe Jahr nicht mehr so schön war wie die sechs Jahre davor". Dem an Alzheimer erkrankten 74-Jährigen fällt inzwischen das Sprechen schwer, er ist zweitweise auf einen Rollstuhl angewiesen. Aber Michel will den Weg mit ihrem Vater in den eigenen vier Wänden bis zum Ende gehen.

"Wir werden mittlerweile blöd angesprochen"

Nach diesem intimen Auftakt folgte prompt der erste Angriff auf Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU). Kornelia Schmid pflegt seit 25 Jahren ihren MS-kranken Ehemann und gründete den Verein "Pflegende Angehörige". Sie fühlt sich als Einzelkämpferin. Denn nur 25 Minuten am Tag hilft der Pflegedienst, den Rest muss sie alleine erledigen. Hinzu kommt die enorme finanzielle Belastung.

Katja Kipping (Linke) fordert deshalb eine Lohnersatzleistung für Menschen, die Angehörige zu Hause versorgen und ihren regulären Job aufgeben. Spahn will sich darauf nicht einlassen. Er verweist auf Zahlungen der Pflegeversicherung in die Rentenkasse: Bei Pflegegrad 5 immerhin 500 Euro. "Das ist so, als ob man 3000 Euro brutto verdient", erklärt Spahn.

Das bringt die Bayerin Schmid auf die Palme. "Ich muss sie definitiv bitten, damit aufzuhören, von diesen 3000 Euro zu sprechen." Nur ein Bruchteil der Betreuten falle in Pflegegrad 5. "Wir pflegenden Angehörigen werden mittlerweile blöd angesprochen von der Gesellschaft. Was wollt`s denn ihr? Ihr kriegt`s doch so viel!". Der Vorwurf: Spahn würde damit falsches Bild vermitteln.

Mehr als einmal kollidierte die Realität des Ministers, der seit zwei Monaten im Amt ist, mit der Lebenswirklichkeit der Angehörigen. Spahn verwies immer wieder darauf, dass in den letzten Jahren viel passiert sei in der Pflegeversicherung. Dabei schien er mehr mit seinen Zahlen beschäftigt als an den Schicksalen seiner Gesprächspartner interessiert.

Eine Pflegekraft für 50 Bewohner

So wie im Dialog mit Walter Keil, dessen Mutter auch im Heim auf seine zusätzliche Hilfe angewiesen war. 15 Leute kündigten, während die hochbetagte Dame in der Einrichtung lebte, berichtete der Rentner. Eine Pflegekraft war nachts für bis zu 50 Bewohner auf drei Etagen zuständig. Macht rund eine Viertelstunde pro Bewohner in einer Zehn-Stunden-Schicht. "Das ist unvorstellbar", rang Keil immer noch um Fassung.

Als Illner bei Spahn nachbohrte, warum die Würde Tausender Pflegebedürftiger verletzt werde, setzte sich der CDU-Mann aufgebracht zur Wehr. Die Diskussion werde der Arbeit von Hunderttausenden Pflegekräften, die "mit viel Empathie und Leidenschaft" für viele Menschen "ein echt schönes Leben möglich machen" nicht gerecht. Walter Keil verfolgte den Ministermonolog mit versteinertem Gesicht.
Für Spahn sind untragbare Zustände in Heimen offenbar nur Einzelfälle.

Anders sah es Martin Bollinger von der Pflegeethik Initiative Deutschland e.V. "Seit 18 Jahren gibt es diese Sendung, und es wird immer noch von Einzelfällen geredet. Das ist absurd." Er forderte einen Systemwechsel verbunden mit der Abschaffung der Pflegegrade.

Die nächste verbale Ohrfeige kassierte Spahn von Alexander Jorde. Der Auszubildende zum Gesundheits- und Krankenpfleger hatte in einer Wahlkampfsendung schon Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit kritischen Fragen Feuer gemacht. Nun schnitt er Spahn das Wort ab, als ihm eine Antwort zu unkonkret war. "Sie sind nicht darauf eingegangen. Das ist nicht zielführend", sagte Jorde. Das passiert dem CDU-Mann nicht so häufig.

"Sie müssen sich mit dem Finanzminister anlegen!"

Schliesslich versuchte Linken-Chefin Kipping, Spahn noch einmal in Sachen Lohnersatzleistung unter Druck zu setzen. "Sie sind doch sonst sehr forsch und angriffslustig, wenn es um Hartz IV oder um Flüchtlinge geht!", sagte sie. "Sie müssen jetzt angriffslustig werden, um die pflegenden Angehörigen zu entlasten, und da müssen Sie sich auch mal mit dem Finanzminister anlegen!"

Spahn reagierte trocken. Er setze lieber auf "verlässliche Zusagen als haltlose Versprechen". Immerhin: Man konnte dem Minister zu Gute halten, dass er keine Luftschlösser baute. Und er versprach mehr Stellen zu schaffen und den Pflegeberuf wieder attraktiver zu machen. Ob die Forderungen Kippings überhaupt finanzierbar wären, blieb offen.

Für einen Lichtblick bei diesem schwierigen Thema sorgte Regisseurin ("Tatort") und Autorin Ilse Biberti. Sie unterbrach für die häusliche Pflege der Eltern ihre Berufstätigkeit. Ihre Philosophie: "Das Leben feiern. Alles vor dem Tod ist Leben verdammt nochmal. Und es kann auch Spass machen, wenn man bettlägrig ist." Biberti sprach von einer "sehr wertvollen und heiligen Zeit" mit ihren Eltern. Mit ihrem Optimismus und Esprit entlockte sie den Anwesenden ein anerkennendes Lächeln.

Fazit: Eine lebhafte Debatte, die einen emotionalen Einblick in die Realität von Pflegenden und Pflegebedürftigen vermittelte. Mit einem Minister Spahn, der sich noch etwas glaubwürdiger mit der menschlichen Dimension in der Pflege beschäftigen sollte.

JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.