Raketen und Drohnen gegen Zivilisten und Infrastruktur: Am Donnerstagabend diskutierte Maybrit Illner mit ihren Gästen die neue verbrecherische Strategie Putins und wie der Westen darauf reagieren sollte – vor allem langfristig. Denn sollte sich Russland durchsetzen, werde es "die Ordnung Europas diktieren."

Christian Vock
Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Christian Vock dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

"Russland verliert gerade den Krieg am Boden, also musste eine neue Strategie her", stellt Maybrit Illner am Donnerstagabend fest und meint damit die neuerlichen Angriffe auf Wohngebäude und die Infrastruktur in der Ukraine. Mit ihren Gästen diskutiert Illner, wie der Westen nun darauf reagieren sollte und fragt: "Putins neue Terror-Strategie – Ukraine zerstören, Europa spalten?"

Mehr aktuelle News

Mit diesen Gästen diskutierte Maybrit Illner

  • Katarina Barley (SPD), Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments.
  • Sergey Lagodinsky (B’90/Die Grünen), Mitglied des Europäischen Parlaments.
  • Alice Bota, "Zeit"-Journalistin.
  • Gustav Gressel, Militär- und Sicherheitsexperte des European Council on Foreign Relations (ECF).
  • Liana Fix, Russland- und Osteuropaexpertin des Council on Foreign Relations (CFR) in Washington DC.

Die Themen des Abends

"Was bedeutet das alles? Und was kann der Westen dagegen tun?" Mit diesen beiden Kernfragen gibt Illner am Donnerstag die Richtung vor und es ist Gustav Gressel, der erklärt, was Putin mit seiner neuen Strategie bezweckt. Putin lasse die ukrainische Wirtschaft attackieren, um die Abhängigkeit vom Westen zu forcieren, denn das Geld zur Verteidigung müsse irgendwoher kommen: "Das zielt im Grunde auf den Westen, auf die Unterstützung aus dem Westen ab." Dieser müsse diese Kostenexplosion nicht nur stemmen, sondern auf intern rechtfertigen.

Liana Fix sieht hier noch einen psychologischen Grund. Der Krieg sei aktuell in einer "der gefährlichsten Phasen". Man sehe gerade eine Strategie der Eskalation aus einer Position der Schwäche heraus. Putin versuche einen Punkt herbeizuführen, an dem der Westen den Krieg aus Angst beenden will: "Alles deutet darauf hin, dass das eine psychologische Operation ist", erklärt Fix, dennoch sei es nicht komplett auszuschliessen, dass parallel dazu "der Boden vorbereitet wird, für eine mögliche, weitere Eskalation."

Was also tun gegen Putins neue Strategie? Hier sieht Gustav Gressel die Flugabwehrsysteme als eine Lösung: "So sehr ich die Bundesregierung kritisiere, dass sie nichts tut, hat sie auf diesem Feld auch einmal rechtzeitig gehandelt." Dennoch sieht Gressel das Problem, dass der Ukraine langsam Munition und Ersatzteile vor allem osteuropäischer Bauart ausgehen. "Da braucht es eine koordinierte Politik." Diese habe das Ramsteinformat bisher nicht geliefert, denn es gebe kein europäisches Zusammenspiel zwischen Politik und Wirtschaft. "Da sind viel zu viele politische Blockaden drin, da ist viel zu viel Unentschlossenheit drin nach acht Monaten des Krieges und das können wir uns nicht lange leisten."

Liana Fix macht hier noch ein weiteres Feld auf. Die EU-Staaten würden ihre Finanzhilfen nicht nur wesentlich langsamer auszahlen als die USA, diese seien auch im Vergleich zu denen der Vereinigten Staaten geringer: "Das stellt natürlich langfristig die Frage: Kann das denn sein, dass die USA mehr investieren in diesen Krieg als die Europäer investieren."

Damit ist die Runde beim Zusammenhalt in der Pro-Ukraine-Allianz angekommen. Den sieht Alice Bota innerhalb der EU gefährdet, etwa durch Ungarn. Aber auch in Deutschland sei die Politik unter enormen Druck, "doch irgendwas zu tun". Zu den Forderungen ihres Parteigenossen Rolf Mützenich nach mehr Diplomatie, erklärt Katarina Barley: "Die Position, die wir da haben, ist total klar: Dass eine diplomatische Bemühung nur dann Sinn macht, wenn es eine Aussicht darauf gibt, dass es eine Lösung gibt, die die Ukraine akzeptieren kann und die gibt es derzeit nicht."

Die Kritik des Abends

Die Kritik aus der Runde richtet sich bis hierhin an "den Westen", nun wird es persönlicher. "Wir sind in Brüssel als Deutschland unten durch", beginnt Sergey Lagodinsky, und fährt mit Blick auf Osteuropa und Frankreich fort: "und das kommt dadurch, dass die Signale so widersprüchlich sind und dass wir immer noch nicht begriffen haben: Die EU muss zusammengehalten werden. […] Es ist eine Krisenführung, die wir brauchen und diese Krisenführung vermisse ich leider von der höchsten Stelle in unserem Land."

Wladimir Putin

Slowenien: Russlands "Beweise" für "schmutzige Bombe" zeigen etwas anderes

Eigentlich wollte Russland mit Fotos belegen, dass die Ukraine an einer sogenannten "schmutzigen Bombe" baut. Stattdessen sind auf den Bildern nach Angaben der slowenischen Regierung Rauchdetektoren zu sehen.

Obwohl Deutschland der Ukraine sehr stark helfe, entstehe ein Eindruck, "dass die Kanzlerpartei nicht klar ist nach dieser Zeitenwende". "Wir sind in der schwersten geostrategischen Krise dieses Kontinents und hier brauchen wir Klarheit, die auch für andere Länder gelten muss und auch für Häfen in Hamburg oder andere Entscheidungen dieser Art", erklärt Lagodinsky mit Blick auf die Entscheidung Olaf Scholz’ zur chinesischen Beteiligung bei einem Terminal des Hamburger Hafens.

Auch Fix kritisiert Kanzler Scholz: "Das Problem ist, dass Deutschland nicht bereit ist, eine Führungsrolle in diesem Krieg einzunehmen." Deutschland und Europa versteckten sich hier hinter den USA, wie etwa bei den Lieferungen des Leopard-II-Panzers. Alice Bota bringt das Bild ein, das Scholz im Baltikum, in Polen und in Finnland habe: "Der Schaden ist hier tatsächlich gross." "Das grösste Problem ist eines der Kommunikation", erklärt Bota über Olaf Scholz. "Dieses Zaghafte, dieses ein bisschen Unverbindliche und eben immer ein bisschen verklausuliert." Man habe dort immer vor der Abhängigkeit Russlands gewarnt und nun entscheide das Kanzleramt, "die Chinesen mit einer Mindestbeteiligung an einem Terminal teilhaben zu lassen."

"maybrit illner" über die "schmutzigen Bombe"

Gustav Gressel erklärt, was seiner Meinung nach hinter dem Vorwurf steckt, die Ukraine würde eine "schmutzigen Bombe" einsetzen wollen: Die internationale Atomenergie-Behörde sei vor Ort, so Gressel, und kontrolliere die AKWs, weshalb die Anschuldigung "völlig aus der Luft gegriffen" sei. Putin bediene damit die Angst vor der "nuklearen Katastrophe", die im Westen verfange. Über die Vorgehensweise sagt Gressel: "Natürlich ist die Art und Weise, wie sie das machen, wie sie Fotos fälschen, wie sie irgendwas zusammenzimmern, auf dem Niveau von Zwölfjährigen, die sich was googeln, nicht besonders ausgeklügelt."

"maybrit illner" über die Staudamm-Sprengung

Neben dem Vorwurf einer "schmutzigen Bombe" behauptet Russland auch, die Ukraine wolle den Kachowka-Staudamm sprengen. Hierzu erklärt Fix, dass der ukrainische Vorschlag klug gewesen sei, eine internationale Beobachter-Gruppe zum Staudamm schicken zu lassen: "Wenn Russland sagt, die Ukraine will diesen Damm sprengen, dann kann man sie damit am Schlafittchen packen und sagen: Gut, wenn ihr die Sorge habt, dann stimmt doch internationalen Beobachtern zu."

Gustav Gressel erklärt die Staudamm-Causa aus militärischer Sicht. Demnach sei so eine Sprengung alles andere als einfach. Man brauche enorme Sprengmittel und müsse über einen längeren Zeitraum Zugang haben, um so eine Sprengung vorzubereiten. Der Damm werde aber aktuell von Russland kontrolliert. Wenn die Ukraine weiter vordringe und bei einem russischen Rückzug der Damm gesprengt werde, dann "weiss man, wer ihn dort gesprengt hat", so Gressel.

Der Schlagabtausch des Abends

Katarina Barley erklärt, dass Deutschland eine militärische Führungsmacht sei, "aber doch nicht alleine." Dieses gemeinsame Vorgehen habe auch Scholz immer erklärt, etwa bei den Panzerlieferungen.

"Sorry, aber das geht nicht", geht Gressel dazwischen und erklärt, dass der französische Leclerc-Panzer seit 2010 nicht mehr in Produktion sei, eine Lieferung an die Ukraine würde die französische Armee in die Bredouille bringen und "dasselbe gilt für den britischen Challenger". Beim amerikanischen Abrams-Panzer werde erst die Infrastruktur in Europa aufgebaut. All diese Probleme gebe es beim Leopard-II-Panzer nicht.

"Das sind hanebüchene Ausreden", kritisiert Gressel und geht noch weiter: "Es gibt in Europa den Leopard II und man muss ja mittlerweile sagen: Leider hat sich Europa auf einen deutschen Kampfpanzer geeinigt. Denn jetzt ist er ein Hindernis, jetzt ist er ein Risiko, weil er deutsch ist. Das ist ein enormes Problem. […] Das betrifft das langfristige Vertrauen in gemeinsame europäische Rüstungs- und Beschaffungsprojekte."

Das Fazit

Es war eine gute Diskussionsrunde an diesem Donnerstag. Denn eigentlich hatte man sich zusammengesetzt, um konkrete Antworten auf die aktuellen Kriegsverbrechen Russlands zu finden, doch man behielt gleichzeitig eine langfristige Perspektive bei diesen Antworten im Blick. Etwa, als Alice Bota auch in Bezug auf Äusserungen des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer, man solle nach dem Krieg wieder Geschäfte mit russischem Gas machen, erklärt: "Das sollte sich in vielerlei Hinsicht erledigt haben."

Oder als Liana Fix die Gefahren einer Verhandlung mit Russland zu dessen Bedingungen klarmacht. Russland würde die Zeit der Verhandlungen nutzen, um seine Position wieder zu stärken und "fängt im nächsten Frühjahr wieder an und alles, was wir bisher erreicht haben mit der Ukraine, war umsonst." Deshalb sei es so paradox, dass gerade in diesem Moment, in dem die Ukraine auf der Gewinnerseite sei, diese Forderungen so laut würden.

Gustav Gressel macht sogar eine noch weitere Perspektive auf. Es gebe nicht nur die Gefahr eines gespaltenen Europas, auch die USA seien zunehmend gespalten, so dass man sich auf diese nicht ewig verlassen könne. "In dieser Situation müssen wir, wenn wir verhindern wollen, dass Russland die dominante Militärmacht in Europa wird und über die Kraft seiner militärischen Dominanz die Ordnung Europas diktieren wird, schauen, dass es diesen Krieg verliert."


JTI zertifiziert JTI zertifiziert

"So arbeitet die Redaktion" informiert Sie, wann und worüber wir berichten, wie wir mit Fehlern umgehen und woher unsere Inhalte stammen. Bei der Berichterstattung halten wir uns an die Richtlinien der Journalism Trust Initiative.