Es ist gar nicht lange her, da brach in Deutschland unter dem Hashtag #aufschrei eine Debatte über alltäglichen Sexismus los. Nun folgt nach dem Fall Weinstein unter dem Hashtag #metoo die nächste Debatte. Da stellt sich die Frage, ob der Gesellschaft Sexismus nur ein Hashtag wert ist, oder ob sich diesmal etwas ändert. Das wollte auch Anne Will gestern Abend von ihren Gästen wissen.

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Von einem blossen "Skandal" zu sprechen, fällt angesichts der Dimensionen schwer. Der Fall des Hollywood-Produzenten Harvey Weinstein, der über viele Jahre Frauen sexuell belästigt und sogar vergewaltigt haben soll, brachte eine Vielzahl von ähnlichen Fällen ans Licht.

In Hollywood, so scheint es, herrscht ein Klima, das von männlicher Machtausübung und Skrupellosigkeit geprägt ist.

Unter dem Hashtag #metoo schildern Frauen inzwischen auf der ganzen Welt ähnliche Erfahrungen, die zeigen, dass Sexismus und sexuelle Übergriffe selbst 2017 mitnichten nur ein Problem der Filmbranche ist.

So wenig überraschend diese traurige Erkenntnis ist, so logisch ist die Frage, wie es nun weitergeht. "Die Sexismus-Debatte – Ändert sich jetzt etwas?", fragt dementsprechend Anne Will gestern Abend.


Das waren die Gäste bei "Anne Will":

  • Laura Himmelreich, stellvertretende Chefredakteurin von Vice.com Deutschland
  • Gerhart Baum (FDP), Bundesinnenminister a. D.
  • Verona Pooth, Moderatorin und Unternehmerin
  • Ursula Schele, Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe – Frauen gegen Gewalt
  • Heike-Melba Fendel, Künstleragentin und Autorin

Darüber wurde gesprochen:

Dass nicht über das Ob sexueller Übergriffe gesprochen würde, dürfte bereits vor der Sendung klar gewesen sein – sollte man meinen.

Dass die vielen Meldungen prominenter Schauspielerinnen in den vergangenen Wochen aber zumindest relativiert wurden, lag zum Erstaunen der geladenen Gäste an Heike-Melba Fendel.

Die Künstleragentin mutmasste, dass bei einigen Schauspielerinnen eine PR-Strategie dahinter stecke, denn gerade herrsche der "Zeitgeist", dass man sich melden könne, ohne seine Marke oder Karriere zu gefährden. Es sollte nicht die letzte Äusserung Fendels gewesen sein, die vor allem bei Ursula Schele Entsetzen hervorrief.

Schele hielt dagegen, dass jede Institution einen Weinstein habe und eine Kultur, die Sexismus dulde. Es sei bitter, dass erst jetzt etwas passiere, als sich viele Frauen meldeten. Eigentlich müsste bereits eine einzige ausreichen.

Schnell kam man gestern Abend dann auf die eigentlich entscheidende Frage, nämlich die nach dem Warum.

Laut Laura Himmelreich gebe es strukturelle Probleme. Die identifizierte auch Gerhart Baum: "Die Diskussion legt etwas offen: Alltagssexismus. Das hängt mit Machtstrukturen zusammen, die wir hier haben und die erzeugen Abhängigkeiten. Was hier passiert ist eine Angriff auf die Menschenwürde."

Noch etwas ausführlicher erklärte Ursula Schele das Warum, als Heike-Melba Fendel dazu aufrief, Sexismus nicht immer nur aus der Täter-Opfer-Perspektive zu betrachten, sondern auch einmal über das Rollenverständnis und Sexualität zu sprechen.

An dieser Stelle versuchte Schele empört zu erklären, dass Sexismus erst einmal nichts mit Sex zu tun habe.

Die sexuelle Ebene werde instrumentalisiert, so Schele, um zu unterwerfen, weil sie beschäme und mundtot mache. Sexuelle Gewalt diene dazu, Macht auszuüben.

Darüber wurde zu wenig gesprochen:

Es gab gestern kurze Momente, da wurde das Problem des Alltagssexismus in einen grösseren Zusammenhang gestellt. Dann nämlich, als es um die Ursachen und die Art und Weise des Missbrauchs ging. Gerhart Baum machte hier "eine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit" als Ursache aus, die sich zum Beispiel auch gegen Obdachlose richte und man hätte dieses Beispiel auch durch dicke, schwule, alte, usw. Menschen ergänzen können.

Anne Will streifte diese übergeordnete Ebene – wenn auch unbewusst – gleich am Anfang, als sie die Sexismus-Debatte auf die Frage herunterbrach: "Wie sollten Menschen korrekt miteinander umgehen?"

Und, ändert sich jetzt etwas?

Ja und Nein. Dass sich durch solche öffentlichen Diskussionen etwas ändere, habe laut Himmelreich die vergangene Debatte um #aufschrei gezeigt. Im Vergleich zu damals würde heute niemand fragen, ob das vielleicht hysterisch sei. "Heute wissen wir, dass wir ein Problem damit haben", so Himmelreich.

Einen Erfolg solcher breiter Debatten bestätigte auch Schele und zwar auf zwei Ebenen. Zum einen habe es inzwischen eine Reform des Strafrechts gegeben und zum anderen würden sich nun viel mehr Frauen trauen, Missbrauch oder Belästigung öffentlich zu machen.

Dennoch, hier war sich die Runde weitgehend einig, brauche es eine Änderung der Machtstrukturen und Ungleichheiten.

Gleichzeitig erfordere es einen Mentalitätswechsel, der dazu führt, dass Frauen selbstbewusster werden und Männer kapieren, was sie tun. Bewusstseinswandel, Solidarität und den Mut, bei Sexismus einzuschreiten – drei Dinge, mit denen jeder anfangen kann.

Das Fazit des gestrigen Abends:

Es war in der Tat eine gute und kluge Diskussionsrunde. Die wichtigsten Probleme wurden angesprochen – wenn auch nicht immer laut ausgesprochen. Zum Beispiel, als Anne Will Gerhart Baum fragte, ob er bereue, damals im Fall Brüderle (Sexistische Anzüglichkeiten gegenüber Stern-Redakteurin Laura Himmelreich während eines Interviews 2013, Anm. d. Red.) nicht öffentlich gegen Brüderle aufgestanden zu sein.

Da erfuhr die theoretische Diskussion plötzliche eine ganz praktische Dimension. "Was soll ich da bereuen? Mein Gott, man lernt", antwortete Baum und ergänzte: "Es gab auch damals eine Solidarität innerhalb der FDP, über die man sich nicht hinwegsetzen wollte und konnte. Es hilft ja überhaupt nichts, wenn ich was sage. Diese Herrenwitze finden heute im Bundestag immer noch statt."

Vielleicht sind es nach der gestrigen Diskussion ja in Zukunft ein paar Herrenwitze weniger.

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