Die Gäste bei Maybrit Illner kritisierten eine hysterische Debatte um den Ukraine-Krieg in Deutschland. Heftig umstritten war die Frage, wie sehr die Verteidigung des Landes in die deutsche DNA eingehen sollte.

Eine Kritik
Diese Kritik stellt die Sicht von Thomas Fritz dar. Informieren Sie sich, wie unsere Redaktion mit Meinungen in Texten umgeht.

Die Kriege im Nahen Osten und in der Ukraine sind für die USA und ihre Verbündeten eine enorme Herausforderung. Ihnen gegenüber stehen Russland und der Iran, die politisch und militärisch eng zusammen arbeiten. Deutschland spielt in den Konflikten eine untergeordnete Rolle, liefert Waffen und versucht vor allem, diplomatisch durchzudringen.

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Wird sich Deutschlands Rolle vergrössern, wenn US-Präsident Joe Biden sein Amt im Januar 2025 abgibt? Und wie sieht der schnellste Weg zum Ende der Kriege aus? Das Thema bei Maybrit Illner: "Ukraine und Nahost: Kein Frieden weit und breit?"

Das waren die Gäste

Lars Klingbeil: Der SPD-Parteivorsitzende glaubt, dass Deutschland in der Lösung internationaler Konflikte wie in der Ukraine künftig eine grössere Rolle übernehmen wird. Ihn stört an der deutschen Debatte über den Krieg "dass sie hysterisch geführt wird, dass sie unversöhnlich geführt wird". Damit könnte auch die Rhetorik von Politikern wie Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) gemeint sein, die sich um Friedensverhandlungen bemühende Menschen schnell als Putin-Freunde verurteilen.

Klingbeil stellte jedoch klar, dass die Ukraine weiter militärisch unterstützt werden müsse, um in Verhandlungen eine starke Position zu haben. Er kritisierte politische Kräfte in Deutschland, die sagen: "Wir liefern keine Waffen mehr an die Ukraine und morgen haben wir Frieden." Jedem müsse klar sein, dass das so nicht funktioniere, so der SPD-Chef.
Deutschlands Position gegenüber Israel beschrieb er so: "Wir haben eine uneingeschränkte Solidarität mit dem Staat Israel. Wir haben keine uneingeschränkte Solidarität mit der Regierung Netanjahu."

Armin Laschet: Der frühere CDU-Kanzlerkandidat wurde zum FAZ-Gastbeitrag der ostdeutschen Ministerpräsidenten Dietmar Woidke (SPD), Michael Kretschmer (CDU) und des thüringischen CDU-Chefs Mario Voigt zu einem Waffenstillstand in der Ukraine befragt. War das angesichts der möglichen Koalition mit dem Bündnis Sahra Wagenknecht in den drei Ländern ein "Kotau vor Wagenknecht?", wollte Illner wissen. "Nein, würde ich nicht sagen", sagte Laschet. Vor der Substanz des Beitrags her nicht, aber das Datum könnte diesen Eindruck erwecken.

Nicole Deitelhoff: Die Friedens- und Konfliktforscherin monierte, dass in Deutschland nur über militärische Unterstützung für die Ukraine gesprochen wird. Sie war ausserdem der Meinung, dass wir nicht in erster Linie unsere Werte in der Ukraine verteidigen (ein "nice to have"), sondern "es geht um harte Sicherheitsinteressen". Man dürfte die Diskussion nicht zu sehr überhöhen, "sonst haben wir eine Schwarz-Weiss-Debatte".

Deitelhoff äusserte berechtigte Zweifel, ob Israel sich in Gaza an das humanitäre Völkerrecht gehalten hat. Bei Bombardierungen von Krankenhäusern, die als militärische Basen benutzt werden, müsse man immer im Einzelfall entscheiden, ob das verhältnismässig sei, um zivile Opfer zu minimieren.

Carlo Masala: "Es gibt genügend Diplomatie" im Ukraine-Krieg, sagte der Militärexperte - meist hinter verschlossenen Türen. Aber Putin interessiere sich dafür nicht. "Er sieht sich auf dem Weg zum Sieg". Klare Botschaft von Masala: Um eines werde man in der Ukraine nach einem Friedensschluss nicht herumkommen: "Egal in welcher Konstellation, ob Nato-Mitgliedschaft, ob Sicherheitsgarantien: Truppen vor Ort stationieren." Er verwies auf das getrennte Korea und Deutschland bis 1990, wo teilweise Hunderttausende Soldaten stationiert waren, um den Frieden abzusichern.

Düzen Tekkal: Die Menschenrechtsaktivistin bescheinigte dem liberalen Westen derzeit "eine Depression", eine Art Identitätskrise. Mit China, Iran und Russland gebe es eine "Achse des Widerstands", die den liberalen Westen in der Ukraine und in Nahost herausfordert. Sie betonte die Verbrechen der Hamas beim Überfall am 7. Oktober 2023 auf Israel und das Selbstverteidigungsrecht Israels, kritisierte aber auch die israelische Kriegsführung in Gaza. Der internationale Strafgerichtshof müsse klären, ob ein Genozid gegenüber den Palästinensern vorliege.

Das war der Moment des Abends

Armin Laschet illustrierte an Noch-Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, wie hysterisch die Ukraine-Debatte seiner Meinung nach in Deutschland geführt wird. "Wenn ein deutscher Politiker gesagt hätte, die Ukraine muss Gebiete abtreten, wäre die Hölle losgewesen. Der ist von Putin bezahlt", sagte der frühere CDU-Chef zu jüngsten Aussagen Stoltenbergs. Laschet sieht in Deutschland nur "Schwarz-Weiss, das auch noch moralisch überhöht ist."

Das war das Rededuell des Abends

"Wird die Sicherheit der Ukraine deutsche Staatsräson?", wollte Maybrit Illner von Lars Klingbeil wissen. Der wollte sich auf eine solche Formel verständlicherweise nicht festlegen lassen. Aber es gebe "eine Verpflichtung, die wir haben". Als Europäer und als Deutsche.

Carlo Masala grätschte dazwischen. "Ich würde den Begriff mit Blick auf die Ukraine komplett ablehnen", sagte er. Der Begriff fessele uns selber und impliziere Dinge, die "wir nicht bereit sind zu tun", argumentierte der Experte. Damit könnte er die mit der Formel theoretisch verbundene Verpflichtung gemeint haben, in letzter Konsequenz auch mit deutschen Soldaten an der Seite Kiews stehen zu müssen.

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So hat sich Maybrit Illner geschlagen

Die Frage nach der Sicherheit der Ukraine als deutsche Staatsräson erwischte Lars Klingbeil auf dem falschen Fuss. Auch weil der Begriff ja nicht einmal mit Blick auf Israel – wo er zu einem geflügelten Wort geworden ist – in der Praxis durchdekliniert ist, musste sich Klingbeil in eine allgemeine Unterstützungsformel flüchten.

Carlo Masala bemängelte ein verkürztes Zitat von Aussenministerin Annalena Baerbock über die Hisbollah im Libanon in einem Einspieler der Sendung. Illner sagte dazu nichts, sondern leitete schnell zum nächsten Thema weiter – das hätte sie auch etwas eleganter auflösen können.

Interessant war die mehrfach vorgebrachte Kritik, wie hysterisch und schwarz-weiss die Ukraine-Debatte in Deutschland geführt wird. Schade, dass die Gastgeberin darauf gar nicht eingegangen ist. Denn Formate wie ihre Sendung, die zur Meinungsbildung in Deutschland beitragen, sind daran beteiligt.

Das ist das Fazit

Auf dem Weg zum Frieden befinden sich die Ukraine und Russland sowie Israel und seine Feinde derzeit an völlig unterschiedlichen Weggabelungen. Im Ukraine-Krieg ist die Lage relativ statisch, in Israel extrem dynamisch. Was auch daran liegt, dass sich auf der einen Seite zwei Staaten bekämpfen und es Israel auf der anderen Seite vorwiegend mit nicht-staatlichen Akteuren wie der Hamas und der Hisbollah zu tun hat.

Friedensforscherin Deitelhoff sagte, es sei "nicht sehr wahrscheinlich", dass die Ukraine "einen Turnaround hinbekommt" und die Russen von ihrem Territorium verdrängt. Der Status der Gebiete im Osten des Landes könnte nach einem Friedensschluss später geklärt werden, nachdem er zunächst über den UN-Treuhandrat internationalisiert wurde. Sie geht wie Masala von enormen Kosten für die Sicherheitsgarantien in Form von stationierten Truppen an der künftigen Ukraine-Russland-Grenze aus.

Welche Rolle der vom ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj entworfene Friedensplan spielen wird, ist gegenwärtig völlig ungewiss. Laut Masala beinhaltet er die Forderung, weitreichende westliche Waffen auch in Russland einsetzen zu dürfen, harte Aussagen in Richtung eines Nato-Beitritts der Ukraine, was Putin kategorisch ablehnt, und die Forderung nach einer neuen Friedenskonferenz. Lars Klingbeil befürchtet derweil, dass ein möglicher neuer US-Präsident Donald Trump eine schnelle Lösung des Ukraine-Kriegs auf Kosten der Ukraine im Sinn hat.

Und wie könnte die Situation im Nahen Osten befriedet werden? Hier haben die USA mit dem schwierigen und selbstbewussten Partner Benjamin Netanjahu bei weitem nicht so viel Einfluss wie in der Ukraine. Israels weiteres Vorgehen im Libanon und gegen den Iran ist noch völlig unklar. Wird es die iranischen Nuklearanlagen angreifen? "Ich halte das für relativ ausgeschlossen", sagte Masala. Es sei nicht so einfach, die gut geschützten, unterirdischen Bunker zu zerstören. Ausserdem sind die USA dagegen – was nicht heissen muss, dass Israel dem folgt.

Was noch schwerer wiegt: Israel hat bislang trotz des Drucks vieler Verbündeter keinen Plan vorgelegt, von wem und wie der Gazastreifen in Zukunft regiert werden könnte. Carlo Masala fasste das so zusammen: "Nicht nur Israel hat keinen Plan, auch alle anderen haben keinen Plan."

"Ukraine und Nahost: Kein Frieden weit und breit?": Der Titel der Sendung liesse sich vor allem mit Bezug auf den Nahen Osten mit einem klaren "Ja" beantworten.

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