Seit dem Aufstand der Wagner-Söldner um Jewgeni Prigoschin fragt sich die Welt: Wie angezählt ist Wladimir Putin? Das war auch das Thema für Anne Will und ihre Gäste am Sonntagabend, und die Antwort ist nicht ganz eindeutig. Eindeutiger, aber auch waghalsiger ist da schon ein Vorschlag, wie die Ukraine auch während des Krieges Nato-Mitglied werden könnte.

Christian Vock
Eine Kritik
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Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin und Teile seiner Söldner-Armee sollen nach ihrem Marsch auf Moskau inzwischen in Belarus sein. Der Krieg in der Ukraine geht indes weiter, aber wie ist die Situation im Kreml um Wladimir Putin? Dementsprechend fragt Anne Will am Sonntagabend: "Machtkampf in Russland – Chance für die Ukraine?"

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Die Themen des Abends:

"Was war das eigentlich nun, was da vergangenen Samstag in Russland passiert ist?", fragt Anne Will zu Beginn und geht dann mit ihren Gästen in die tiefere Analyse. Wie sehr verfängt Putins Erzählung vom Zusammenhalt in Russland gegen die Revolte von Wagner-Chef Prigoschin? Wie fest ist Putins Rückhalt in der russischen Bevölkerung? Ist die Bundesregierung auf einen möglichen Machtkampf in Russland vorbereitet? Was bedeutet die Situation in Russland für den Krieg in der Ukraine und wie könnte ein Russland nach Putin aussehen? Über diese Fragen diskutierte Anne Will am Sonntagabend mit ihren Gästen.

Mit diesen Gästen diskutierte Anne Will:

  • Ralf Stegner (SPD): Stegner ist Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Auswärtigen Ausschuss. In der aktuellen Lage sei mehr denn je Vorsicht geboten. "Wenn die Veränderung gegenüber dem Ist-Zustand keine Verbesserung ist, weil wir keine demokratische Alternative haben, sondern womöglich solche Verbrecher wie Prigoschin oder andere Einfluss gewinnen, dann wird es brandgefährlich", meint Stegner.
  • Norbert Röttgen (CDU): Röttgen ist ebenfalls Mitglied im Auswärtigen Ausschuss und sagt über die Angst, es könnte nach Putin noch schlimmer kommen: "Ich glaube, dass Putin mit allem scheitert, mit allem gescheitert ist. Auf einem Gebiet ist er noch ziemlich erfolgreich: mit seiner Propaganda." Man könne die inneren Entwicklungen in Russland nicht beeinflussen, ausser dass ein Erfolg der Ukraine zu Veränderungen in Russland führen könnte.
  • Claudia Major: Die Leiterin der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin sieht in der momentanen Situation ein gute Gelegenheit, drei Lehren zu ziehen. Man solle sich von der "Stabilitätsobsession" verabschieden, nach der Putin zwar schlimm, aber stabil sei. Man habe gesehen, so Major, "dass Putin keine Stabilität bringt." Zudem bedeute Eskalation nicht immer Atomwaffen, sondern umfasse auch den Ökozid oder den Beschuss der Zivilbevölkerung. Ausserdem, und das sei die wichtigste Lehre, sorge der Erfolg der Ukraine für politische Veränderungen in Russland.
  • Irina Scherbakowa: Scherbakowa ist russische Historikerin und Mitbegründerin der Menschenrechtsorganisation Memorial. Sie meint, es sei das erste Mal bei Putin gewesen, "dass man so eine Angst und Panik deutlich sah." Dennoch wisse man nicht, wie tief die Risse im Kreml sind, aber sie seien zum ersten Mal deutlich geworden. Mit Blick auf die Unterstützung der Ukraine sagt Scherbakowa, man habe immer noch nicht begriffen, was für eine Katastrophe dieser Krieg für das ganze Sicherheitssystem in Europa bedeutet und nicht nur in Europa. "Man muss Mut haben, diese Sicherheitssysteme zu verändern", meint Scherbakowa.
  • Michael Thomann: Der aussenpolitische Korrespondent der "Zeit" in Moskau glaubt, dass Putins Erzählung vom geeinten Entgegentreten gegen Prigoschin bei den meisten Russen verfängt: "Diese Erzählung ist eine, die viele glauben wollen, einfach, um sich selber nicht zu beunruhigen." Für Thomann ist klar: "Putin steht nicht kurz vor dem Sturz." Das bedeute aber nicht, dass er keinen Schaden davon getragen hätte. Putin selbst habe ja Wagner gefördert, dementsprechend sei dieser Aufstand Putins Schuld. "Und wer ein bisschen nachdenkt, der weiss das und vergisst es nicht", meint Thomann.

Die Konfrontation des Abends:

Es dauert nur wenige Minuten, da hat Anne Will den ersten Tacheles-Talk provoziert. Die Moderatorin konfrontiert Norbert Röttgen zunächst mit seiner Aussage, Putin werde sich von dem Aufstand am Samstag nicht erholen. Dann zitiert Will Ungarns Ministerpräsidenten Victor Orbán, der Menschen, die so etwas glauben, Ahnungslosigkeit in Bezug auf Russland unterstellt.

Da erklärt Röttgen in ruhiger, aber bestimmter Art: "Zunächst einmal würde ich Victor Orbán nicht als einen Russland-Experten betrachten, sondern als einen skrupellosen Machtpolitiker, dem es um seine Macht geht und der aussenpolitisch einen Pro-Putin-Kurs eingeschlagen hat, die Abhängigkeit von Russland für sich akzeptiert, einen anti-europäischen Kurs fährt. Und darum ist es seine eigene Machtpolitik, die sich inhaltlich von Europa schon lange entfernt hat und sich Russland annähert."

Die Unanbhängigkeit Orbáns ist damit in zwei Sätzen zunichte gemacht, aber auch inhaltlich argumentiert Röttgen dagegen. Der CDU-Politiker sieht Putins Herrschaft seit dem Aufstand verändert. "Und sie wird auch nie mehr so werden", glaubt Röttgen, "weil diese Herrschaft beruhte auf dem absoluten Anspruch, alles zu wissen, alles zu kontrollieren, nicht herausgefordert werden zu können." Jetzt aber fordere ihn ein Söldner-General heraus und Putin reagiere panisch und müsse seinen "Vasallen Lukaschenko" die interne Angelegenheit Russlands regeln lassen. Röttgens Fazit: Die ganze Welt, die "Machtteilhaber" und auch das russische Volk hätten gesehen: "Dieser Putin, der ist gar nicht unbezwingbar."

Der Schlagabtausch des Abends:

Insgesamt war es eine sehr sachlich geführte Diskussion, so dass ein typischer Schlagabtausch ausblieb. Unterschiedlicher Meinung war man dennoch, zum Beispiel bei der Frage nach einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Die hält Ralf Stegner derzeit für ausgeschlossen, denn es gebe hier drei Kriterien. Zum einen, dass "das Land intern in der Lage ist", zum anderen, dass alle Mitgliedsstaaten zustimmen und dass es drittens, "keine ungeklärten territorialen Streitigkeiten gibt". "Nichts davon ist auch nur in der Nähe", meint Stegner.

Claudia Major hat einen anderen Blick auf eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine. Im Westen glaube man, sie sei ein Almosen an die Ukraine. Die habe zwar ein Interesse an einem Beitritt, der Westen aber auch. "Für uns ist es genauso wichtig. Weil eine Ukraine, die zu einem militärischen Vorposten von Russland wird oder die halb besetzt ist, für uns ein enormer Pol von Instabilität ist." Man müsse zudem daran denken, was passiere, wenn der Wiederaufbau nicht gelingt. Investoren kämen erst, wenn es einen sicheren Rahmen in der Ukraine gibt.

Ein Beitritt erst nach dem Krieg bedeute, dass Russland diesen Krieg ewig hinziehen würde. Für Major wäre daher denkbar, nicht besetzte Gebiete in die Nato aufzunehmen, die besetzten Gebiete nicht. Diese würden aber nicht als zu Russland gehörig anerkannt. Nach einer Befreiung könnten die Gebiete dann erweitert werden. Dies sei aber kein schneller und einfacher Prozess.

So schlug sich Anne Will:

Gut. Will stellt die richtigen Fragen und hakt bei Unklarheiten für den Zuschauer nach.

Das Fazit der Diskussion:

Es war eine gute Diskussionsrunde an diesem Sonntagabend. Zum einen, weil sie trotz unterschiedlicher Meinungen für einen Polittalk doch sehr sachlich verlief. Zum anderen, weil es für den Zuschauer einige Erkenntnisse gab. So war sich die Runde einig, dass Putins Machtsystem zwar Risse bekommen habe, wie gross diese Risse sind und was in den nächsten Tagen und Wochen passieren wird, bleibt aber weitgehend Spekulation.

Claudia Major war es zu verdanken, den Blick zu weiten und einen Nato-Beitritt nicht nur als Akt ukrainischen Interesses zu werten, sondern auch den Vorteil für den Westen zu erkennen – beziehungsweise die Nachteile, sollte ein Beitritt ausbleiben oder erst nach dem Krieg erfolgen.

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