Der unberechenbare Putin, seine Kriegsführung und das Säbelrasseln mit Atomwaffen waren am Sonntagabend Thema bei Anne Will. Das Studio debattierte: Was ist dem Kreml-Chef noch zuzutrauen? Zu den Gästen zählte auch der bekannte russische Schriftsteller Viktor Jerofejew. Als er seine Sicht auf Putin darlegte, war der Moment des Abends gekommen.

Eine Kritik
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Seit Montag lässt Putin zivile Ziele in der Ukraine mit Raketen beschiessen. Beobachter werten die erste grössere Angriffsserie seit den ersten Kriegswochen als Ausdruck der Rache für die Zerstörung der Krim-Brücke. Hardliner in Russland sollen explizit gefordert haben, die Hauptstadt Kiew zu beschiessen. Die Zerstörung der Brücke zwischen der Halbinsel Krim und Russland wird dem ukrainischen Geheimdienst zugeschrieben. Sie gilt in Moskau als patriotisches Symbol.

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Das ist das Thema bei "Anne Will"

"Was ist Putin in diesem Krieg noch zuzutrauen?" und "Ist er noch zu stoppen?" wollte Anne Will angesichts der jüngsten Entwicklungen im Ukraine-Krieg von ihren Studiogästen wissen.

Dabei ging es im Studio um einen drohenden Atomwaffeneinsatz, die zerstörte Energieinfrastruktur in der Ukraine, neues militärisches Führungspersonal in Moskau und ein potentielles Einfrieren des Konflikts. Ausserdem diskutierte das Studio die Frage, welche Rolle der chinesische Präsident Xi Jinping bei der Lösung des Konflikts spielen könnte.

Das sind die Gäste

  • Martin Schulz (SPD): "Putin ist alles zuzutrauen", war sich Schulz sicher. Als ehemaliger Geheimdienstmann sei er darin geschult, zu täuschen. Am Ende machten sie aber niemals den Schritt, ihr eigenes System zu vernichten. "Ich glaube, dass die Drohung mit den Atomschlägen ernstzunehmen ist", sagte Schulz. Die "grosse Angst" vor einem Atomwaffeneinsatz müsse man aber nicht haben. "Das ist ein Teil dieser Geheimdienststrategie des Täuschens und Drohens und Spaltens", sagte der SPD-Politiker. Es könne aber auch sein, dass mit zunehmendem Alter bei Putin der Satz "nach mir die Sintflut" greife. Wenn dem so wäre, wäre das gefährlich, fürchtete Schulz.
  • Marina Weisband: "Der Krieg dauert nicht acht Monate, er dauert acht Jahre. Der Beschuss ziviler Ziele ist nicht neu", sagte die deutsch-ukrainische Publizistin resigniert. "Dieser Krieg ist darauf ausgelegt, Terror zu veranstalten, die Zivilbevölkerung zu töten und die Ukraine als Land zu vernichten", erinnerte sie. Das Beste, was Putin in der jetzigen Situation passieren könne, sei ein Einfrieren des Konflikts und ein Waffenstillstand. "Damit er in Ruhe aufrüsten kann", warnte Weisband.
  • Viktor Jerofejew: "Putins Verhalten wundert mich nicht, er ist ein Mensch des Krieges", sagte der russische Schriftsteller, der aus seinem Heimatland geflüchtet ist. "Was mich verwundert, dass die Ukraine sich so heldenhaft verteidigt", räumte er anerkennend ein. Das Putin-Regime befinde sich aktuell in einem Todesschmerz. "Alles, was hineingeworfen wird, ist die Verzweiflung Putins", so Jerofejew. Alles, was der Ukraine gehöre, müsse an sie zurückfallen und es müssten Reparationszahlungen geleistet werden.
  • Sarah Pagung: "Viele Menschen in Russland beantworten die Frage, ob sie mit Sorge in die Zukunft schauen jetzt deutlich häufiger mit 'Ja'", berichtete die Russland-Expertin der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Dieser Trend werde aber noch nicht auf Kritik am politischen System übertragen. "Die Gesellschaft ist in einer Art Paralyse. Viele hoffen, dass es sie nicht allzu sehr treffen wird", sagte Pagung.
  • Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP): "Putin verheizt seine eigenen Leute", war sich die Verteidigungspolitikerin sicher. Er habe seine eigenen Soldaten auf das verstrahlte Gelände in Tschernobyl geschickt. Putin wolle den Westen mit seinen Atom-Drohungen "von innen weichklopfen". Man solle sich die Drohungen nicht zu eigen machen, so Strack-Zimmermann. Es sei nun bedeutend zu beobachten, wie die russische Gesellschaft auf die Teilmobilisierung reagiere. Der Glaube, der Krieg berühre sie nicht, sei nicht mehr aufrechtzuerhalten. "Jetzt trifft es auch das russische Reich. Die Hoffnung ist, dass ein Widerstand von innen heraus wächst", sagte sie.

Das ist der Moment des Abends bei "Anne Will"

Er ist einer der bekanntesten Schriftsteller Russlands und als Viktor Jerofejew seine Einschätzungen zu Putin gab, hörte das Studio mit besonders gespitzten Ohren zu. "Man kann sich in Moskau nie so ganz sicher fühlen, es gibt nur unterschiedliche Arten der Gefahren", leitete er ein.

Dann attestierte er: Der russische Staat sei wie eine Leiche, die Menschen würden wie Ameisen laufen und versuchen, von der Leiche wegzukommen. Putin sei ein "Hinterhofschläger", das Land befinde sich in Agonie. "Putin wird alles machen, um nicht als Verlierer dazustehen", wähnte Jerofejew. Man halte ihn im Westen zu Unrecht für einen rationalen Menschen.

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Das ist das Rede-Duell des Abends

Es ging mal wieder um Waffenlieferungen: Die Strategie, die die europäische Staatengemeinschaft dabei eingeschlagen habe, sei die richtige gewesen, verteidigte Schulz. "Die Nato will und kann nicht Kriegspartei sein. Wenn es überhaupt zu Waffenlieferungen von schweren Waffen kommt, macht sie das in Gemeinschaft", erinnerte der SPD-Mann. Deutschland werde aufgedrängt, es solle das im Alleingang machen. "Das ist nicht vernünftig", sagte Schulz.

Strack-Zimmermann: "Immer die Argumente, man klärt das erstmal mit den Partnern, hat so einen langen Bart. Keiner in Europa oder den Vereinigten Staaten hat Angst, dass Deutschland zu viel macht. Wir machen eine Menge, aber da ist noch Luft nach oben." Es wäre an der Zeit, endlich das zu liefern, was die Ukraine möchte. "Wir verlieren unfassbar viel Zeit", ärgerte sie sich. Die Deutschen könnten einen Schritt nach vorne gehen und offensiver sein.

So hat sich Anne Will geschlagen

Moderatorin Will stellte an diesem Abend vor allem analytische Fragen und konnte damit folglich keine hitzigen Rede-Duelle provozieren. Was das neue militärische Führungspersonal in Russland bedeutet, wollte sie ebenso wissen wie: "Schätzt man Putin richtig ein?". Bei einer Frage verpasste Will, den Spielball im Feld zu halten: Es hätte sich gelohnt, noch intensiver über die Rolle des chinesischen Staatschefs Xi Jinping zu diskutieren.

Das ist das Ergebnis bei "Anne Will"

Der Mangel an hitzigen Debatten sprach Bände: Zum einen scheint die Luft aus manchen Streitthemen raus zu sein – Stichwort Waffenlieferungen. Zum anderen war das Studio angesichts seiner Gäste nicht wirklich mit konträren Standpunkten besetzt, oder Will kitzelte sie zumindest nicht heraus.

In welcher Rolle Martin Schulz redete, wurde nicht ganz klar. Als SPD-Politiker ist seine Partei schliesslich Teil der Regierung – gerade gegenüber Strack-Zimmermann (FDP) wirkte das aber nicht wie ein Gespräch zwischen Koalitionspartnern. Über grosse Teile verlor sich die Sendung in Kaffeesatzleserei: Was Putin denkt, fühlt und tun wird kann schliesslich niemand vorhersagen. Wichtiger wäre es gewesen, die Rolle Deutschlands, der EU und des Westens eindringlicher zu beleuchten.

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