Hat sich Andrea Nahles verkalkuliert, als sie die Machtfrage stellte? Viele Abgeordnete fühlen sich überrumpelt. Doch ein Herausforderer ist vorerst nicht in Sicht.

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Im Machtkampf bei der SPD ist die politische Zukunft von Partei- und Fraktionschefin Andrea Nahles völlig offen. Vor der von Nahles durchgesetzten Neuwahl der Fraktionsspitze gab es bis Freitag zunächst weiter keine Gegenkandidaten.

Selbst wenn sich bis zur Abstimmung am kommenden Dienstag niemand findet, der gegen Nahles antritt, könnte die Fraktionschefin bei einem schlechten Ergebnis geschwächt aus der Neuwahl hervorgehen, hiess es in Fraktionskreisen.

Ein Bericht, nach dem Nahles bei Probeabstimmungen in den drei Parteigruppen am Mittwoch keine Mehrheit bekommen hat, wurde von Vertretern dieser Gruppen am Freitag einhellig zurückgewiesen.

Abgeordnete fühlten sich überrumpelt

Nahles hatte nach dem Desaster der SPD bei der Europawahl am Montagabend angekündigt, dass sie sich in der kommenden Woche in der Fraktion der Neuwahl stellen will. Viele Abgeordnete fühlten sich überrumpelt und waren verärgert. Das wurde nach Teilnehmerangaben auch bei einer Sonderfraktionssitzung und bei Treffen der Abgeordneten der verschiedenen Parteigruppen am Mittwoch deutlich.

Dennoch war es weiter unklar, ob es zu einer Kampfabstimmung um den Fraktionsvorsitz kommt. Der SPD-Abgeordnete Johannes Kahrs rechnet nicht damit. "Wer sich hätte melden wollen, hätte das am Mittwoch tun können. Und meiner Meinung nach auch tun müssen", sagte der Sprecher des Seeheimer Kreises, einer konservativen SPD-Strömung, den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Freitag). Er glaube, es werde am kommenden Dienstag eine Kandidatin geben, und die werde auch gewählt werden. "Sozialdemokraten sind in Zeiten der Krise solidarisch."

Allerdings gilt es als wahrscheinlich, dass viele Abgeordnete Nahles ihre Stimme auch ohne Gegenkandidaten verweigern. Der hessische Parlamentarier Sascha Raabe sagte dem Radiosender hr-iNFO: "Wenn Andrea Nahles die einzige Kandidatin sein sollte, wird sie meine Stimme nicht bekommen." Nahles solle zur Einsicht kommen, "dass sie den Platz frei machen muss, und jemand anderes antreten kann. Manche trauen sich jetzt nicht." Unter anderem der frühere Kanzlerkandidat Martin Schulz hatte angekündigt, nicht gegen Nahles anzutreten. Der als möglicher Kandidat gehandelte Chef der NRW-Landesgruppe, Achim Post, äusserte sich bisher nicht.

Zurückgewiesen wurde ein Bericht, nach dem es bei Probeabstimmungen des Seeheimer Kreises, der Netzwerker und der Linken in der SPD "nicht annähernd eine Mehrheit für Nahles gegeben". Dies hatten die Zeitungen der VRM-Gruppe (Freitag) unter Berufung auf Parteikreise berichtet.

"Es gab keine Probeabstimmungen", twitterte Kahrs. Auch Niels Annen, Staatsminister im Auswärtigen Amt, schrieb auf Twitter, es habe keine Probeabstimmung gegeben. "Es hat am Mittwoch keine Probeabstimmung zur Wahl des Fraktionsvorsitzes gegeben", sagte Fraktionsvize Karl Lauterbach, Mitglied der Parlamentarischen Linken der SPD-Fraktion, der "Rheinischen Post" (Samstag). Auch andere Abgeordnete wiesen dies zurück. Die Zeitungen der VRM-Gruppe blieben bei ihrer Darstellung.

Viel Kritik an Nahles

Bei den Treffen der Gruppen wurde nicht abgestimmt, Abgeordnete äusserten in Diskussionen aber viel Kritik an Nahles und der vorzeitigen Neuwahl an der Fraktionsspitze, wie Teilnehmer der Deutschen Presse-Agentur mitteilten.

Beim Seeheimer Kreis und den Netzwerkern gab es demnach überwiegend gegenüber Nahles kritische Wortmeldungen. Bei der Parlamentarischen Linken signalisierten mehrere Abgeordnete auch Unterstützung für die Fraktionschefin.

Noch gesteigert wurde die Nervosität durch die Erwartung weiterer Konsequenzen einer Niederlage von Nahles an der Fraktionsspitze. In diesem Fall will Nahles wohl auch als Parteichefin zurücktreten. Entsprechend äusserte sie sich nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur in kleiner Runde. Die "Bild"-Zeitung (Freitag) berichtete darüber unter Berufung auf Nahles-Vertraute.

Auch die Debatte über den Fortbestand der Koalition kochte wieder hoch. Mehrere Abgeordnete wandten sich in der Fraktionssitzung dagegen und mahnten, die Folgen zu bedenken, wie Teilnehmer berichteten. Der ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende Thomas Oppermann sagte in der Sitzung nach einem Bericht des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel": "Wir müssen Trophäen einfahren, oder wir werden Konsequenzen ziehen müssen." Die SPD stehe vor der Frage, ob es die Groko an Weihnachten noch gebe.

Vor der Neuwahl in der Bundestagsfraktion trifft sich der Parteivorstand am Montag zur Aufarbeitung der Wahlniederlage.  © dpa

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