Der neu gewählte Bundesrat Ignazio Cassis sei ein Mann des Kompromisses und deshalb am richtigen Ort, sagt Claude Longchamp im Gespräch mit Balz Rigendinger, Leiter Redaktion Schweiz. Das Interview führte swissinfo.ch erstmals via Facebook live durch.

Ein Interview
von Balz Rigendinger

swissinfo.ch: Das Parlament feiert gerade die Wahl des neuen Bundesrats mit Häppchen und Weisswein. Wie geht es dem Land heute?

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Claude Longchamp: Die Schweiz steht zwischen den Parlamentswahlen 2015 und 2019. Wir haben vielleicht das politischste von allen Jahren mit der abgelehnten Unternehmenssteuerreform, dem Ja zur Energiewende und kurz vor der grossen Entscheidung über die Rentenreform.

Mitten in den drei ganz grossen Projekten dieser Legislatur hatten wir noch Bundesratswahlen. Das gab viel Aufregung in den Medien, aber vielleicht doch nicht die ganz grosse Weichenstellung.

swissinfo.ch: Der Wahlkampf der Kandidaten im Volk und im Parlament, so etwas hat man noch nicht gesehen.

C.L.: Tatsächlich gab es in den letzten 25 Jahren einen grossen Wandel bei den Bundesratswahlen. Vorher stimmten sich die Fraktionen untereinander ab, und sie bestimmten, wer Bundesrat wird.

Jetzt hatten wir ja zwei Veränderungen: Erstens war in jüngster Zeit nicht mehr so ganz sicher, welche Partei den Sitz bekommt, wenn jemand zurücktritt. Und zweitens: Die Medien haben Feuer gefangen an dieser Situation, die auch spannend, ja brenzlig werden kann. Wir haben eine eigentliche Mediatisierung.

Diesmal hat die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen) sogar eine eigene Webseite und einen eigenen Newsroom eingerichtet, das gab es noch nie. Plötzlich kommt also das Publikum als Meinungsmacher mit ins Spiel. Das führte zu einem Hype.

swissinfo.ch: Nun haben wir einen neuen Minister. Ignazio Cassis wird entweder Innenminister oder Aussenminister. Welche Aufgaben stellen sich ihm da?

C.L.: Ich gehe mal ernsthaft davon aus, dass er Aussenminister wird. Innenminister Alain Berset wird sein Departement kaum vor der entscheidenden Abstimmung über die Rentenreform abgeben. Man rechnet noch mit weiteren drei Rücktritten in der laufenden Legislatur, es gelangen also noch drei fette Departemente zur Neuverteilung. Da geht es um Wirtschaft oder um Finanzen, und beides interessiert Berset mindestens so stark wie das Aussendepartement.

Also wird Ignazio Cassis höchstwahrscheinlich das Aussendepartement von Didier Burkhalter übernehmen und dies nicht allzu schlecht machen. Er ist ein bisschen zögerlicher als Burkhalter in der Europafrage, dem wichtigsten Dossier, und er wird als FDP-Vertreter den bilateralen Weg verteidigen müssen.

swissinfo.ch: Die Person Ignazio Cassis: Man hat fast ein bisschen den Eindruck, das Beste an diesem Tessiner ist, dass er alle drei Landessprachen beherrscht – ist das so?

C.L.: Wenn sich ein Bundesrat in allen drei Landessprachen an die Bevölkerung wenden kann, dann ist das ein grosser, eindeutiger Vorteil. Ich glaube aber nicht, dass es seine wichtigste Eigenschaft ist. Er sagte im Vorfeld der Wahl einmal, die Soft Skills seien das Entscheidende.

Es wird eben nicht der Präsident der französischen Republik gewählt, das wäre eindeutiger Pierre Maudet gewesen. Aber um im Bundesrat Mehrheiten zu finden, ist Cassis besser geeignet als Vertreter von Mitte-Rechts mit gewisser Offenheit gegenüber Links. Es sind die Soft Skills, die Cassis auszeichnen: Zuhören, einmal dazwischen gehen, vermitteln und auch einmal einen Pakt abschliessen mit dem politischen Gegner.

swissinfo.ch: Kompromisse zu machen, das ist das, was er im Parlament gelernt hat…

C.L.: Und ich glaube das ist seine absolute Stärke. Er hat gemerkt: Es ist ein System, das auf Verhandeln aus ist, das darauf ausgelegt ist, Mehrheiten zu bilden. Da ist er gar nicht so schlecht aufgestellt.

swissinfo.ch: Cassis hat sich ursprünglich mal den italienischen Pass aktiv geholt und ihn dann wieder aktiv zurückgegeben. Die Medien legen ihm das als Opportunismus aus. Die Auslandschweizer – darunter sind 75 Prozent Doppelbürger – verübeln ihm dies. Hat er sich da nicht ohne Not etwas unbeliebt gemacht?

C.L.: Natürlich, dieser Vorwurf klebt im Moment an ihm. Doch ob das opportunistisch ist oder auch einfach nur flexibel, würde ich heute nicht abschliessend beurteilen. Das mit der Doppelbürgerschaft war ein Fehlentscheid, aber es ist jetzt so entschieden worden. Im Herzen kann er die zivilisatorische Leistung als Bürger zweier Länder ja immer noch behalten.

swissinfo.ch: Noch kurz zu den Parteien: Die Schweizerische Volkspartei (SVP) hat sich hoch anständig verhalten. Sie zweifelte das Recht des Tessins auf diesen Sitz nie an, und auch nicht das Recht der FDP. Was ist das Kalkül dahinter?

C.L.: Die SVP plant ja so etwas wie einen bürgerlichen Wiederaufbau. Zunächst sagte sie: Ende mit diesem rotgrünen Hokuspokus, den sie seit 2007 beklagen. Man will eine solide Mehrheit von rechts haben, und diese ist letztlich möglich mit SVP, FDP und ab und zu der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP).

swissinfo.ch: Die Sozialdemokratische Partei (SP) konnte sich bis gestern Abend nicht entscheiden. Was war da dahinter?

C.L.: Die SP hatte die Wahl einer "faszinierenden" Kandidatur von Pierre Maudet mit Angeboten, die er an die Linke gemacht hat. Gleichzeitig ist die SP eine Partei, die normalerweise die Frauenfrage fast zuoberst hat. Sich da zu entscheiden, war wohl nicht ganz einfach. Die SP blieb auch bei der Wahl gespalten. Die SP ohne die CVP ist in diesem Parlament nur eine Minderheit.

swissinfo.ch: Die CVP hat jetzt einen Katholiken aus dem Tessin erhalten, einen Arzt, der Entwicklungshilfe macht. Alles CVP-Werte. Gut für die Partei?

C.L.: Die CVP hat sich sichtbar ein Problem eingehandelt, denn mindestens einer der valablen Kandidaten für die Nachfolge von Doris Leuthard ist der Fraktionschef der CVP, Filippo Lombardi, auch ein Tessiner. Seine Wahlchancen sind jetzt auf praktisch null eingebrochen.

swissinfo.ch: Lombardi, ein wichtiger Vertreter der Interessen der Auslandschweizer, wird also kaum noch Bundesrat werden…

C.L.: Das wurde heute auch mitentschieden. Die CVP hat aber noch ein zusätzliches Problem: Der Druck auf die Partei, eine Frau als Nachfolgerin von Doris Leuthard zu nominieren, wird grösser werden. Leuthard selber hat das Thema in diesem Wahlkampf aufgebracht. Da ist die CVP in den nächsten zwei Jahren ziemlich gefordert.

swissinfo.ch: Bei der FDP haben wir einerseits den Westschweizer Flügel, der Maudet lancierte, der Einfluss des Zürcher Bankensektors ist auch nicht mehr da, jener von Economiesuisse schwindet. Bleibt die FDP sich selbst überlassen?

C.L.: Vielleicht ist das gar kein Nachteil. Sie wurde häufig als reine Interessenvertreterin der Wirtschaft kritisiert. Mit der Manager-Debatte und wegen der Zuwanderungsfrage wurde die Wirtschaft diskreditiert. In diesem Zusammenhang ist etwas Selbständigkeit eigentlich eine gute Sache.

Zwischen der etwas republikanischer eingestellten Westschweizer Linie und der eher liberaleren, staatskritischen Linie hat sich letztere durchgesetzt. Ich würde das nicht unterschätzen: Die FDP ist die erfolgreichste Partei in dieser Legislatur, sie gewann die meisten Volksabstimmungen. Sie kann Allianzen nach rechts und links schmieden. Sie hat sich personell erneuert und verfügt über eine vife Jungpartei. Da kommt noch einiges auf uns zu.

swissinfo.ch: Cassis hat sich aber mit einem Satz als Ultraliberaler geoutet: "Ich bin für die Freigabe von Kokain." Er meinte dabei nicht eine Legalisierung, aber Zugang für Schwerstsüchtige. Wird er – eine Frage von unseren Zuschauern – als Minister nun ähnlich überraschende Positionen vertreten?

C.L.: Ich glaube, Herrn Cassis sollte man nicht unterschätzen. Vielleicht musste er als Favorit im Wahlkampf etwas viele Vorwürfe hören. Ich halte ihn sowohl für einen Wirtschafts- als auch für einen Gesellschaftsliberalen.

Als Arzt weiss er, dass die radikalen Positionen der Drogenpolitik der 1990er-Jahre überwunden sind. Man sieht das heute liberaler. Da kann er auch mal pragmatisch einen Schritt in die unerwartete Richtung machen.

swissinfo.ch: Der Kanton Tessin hat nun wieder einen Vertreter in der Landesregierung. Wie wichtig ist diese Tatsache?

C.L.: Das Tessin ist nicht zu unterschätzen. Es ist ein existenzieller Bestandteil der Identität der Schweiz. Es ist eine Minderheit, die in jüngster Zeit gelegentlich übergangen wurde. Es ist gut, wurde diese Frage auf der symbolischen Ebene geklärt.

Vertreten muss er aber das ganze Land, wie Bundesrat Berset im Wahlkampf betonte. Es ist nicht die Aufgabe eines Mitglieds der Landesregierung, Interessenvertreter einer Region zu sein. Das wäre nicht sehr förderlich. Es ist wichtig, dass man weiss, woher man kommt, aber auch, dass man in einer Konkordanzregierung ein Teil von sieben ist.

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