Fehlende Lehrer, potenzielle islamistische Schläfer und ein Streit zwischen Bund und Ländern: Die Liste der Herausforderungen wird länger, seit immer mehr Flüchtlinge nach Deutschland kommen. Doch was sind echte Probleme – und was nur politische Rhetorik? Wir machen den Realitätscheck.

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Spätestens seit die Bundesregierung am Sonntagabend beschlossen hat, die Grenze zu Österreich wieder zu kontrollieren, ist offensichtlich: Die aktuelle Flüchtlingskrise verändert Deutschland und Europa grundlegend. Allein in München sind in den vergangenen zwei Wochen 63.000 Menschen angekommen. Wir machen den Realitätscheck und überprüfen fünf Politiker-Aussagen: Was ist dran an den Problemen und Herausforderungen, die sie beschreiben?

Barbara Lochbihler: "Dublin ist vollkommen gescheitert."

Die Grünen-Abgeordnete im EU-Parlament sieht keine Zukunft für die aktuellen Asylregeln in Europa. Laut dem Dublin-Abkommen sollten Flüchtlinge in dem Land registriert und aufgenommen werden, in dem sie ankommen. Organisationen wie Pro Asyl kritisieren seit Jahren das "undurchsichtige Labyrinth", in dem Flüchtlinge von einem Land zum nächsten geschoben würden. Das Verfahren hat mittlerweile massive Lücken. "Das Dublin-System ist zusammengebrochen", sagte der Migrationsforscher Jochen Oltmer von der Universität Osnabrück unserem Portal.

In der Praxis geht es längst nicht mehr nur um Dublin: Griechenland, Italien und Ungarn sind mit dem Flüchtlingsansturm überfordert und schicken viele einfach weiter, ohne sie zu registrieren. In Deutschland setzte das Bundesamt für Flüchtlinge und Migration (BAMF) vor zwei Wochen die Dublin-Regeln für Syrer aus – nur um am am Sonntag wieder Kontrollen an der Grenze zu Österreich einzuführen. Damit ist derzeit sogar das Schengen-Abkommen, das Bewegungsfreiheit innerhalb Europas verspricht, ausser Kraft. Als ersten Reformschritt fordern einige EU-Staaten deshalb verbindliche Quoten zur Verteilung der Flüchtlinge – doch vor allem Regierungen aus Osteuropa lehnen das ab. Klar ist: Die alten Regeln funktionieren nicht mehr.

Martin Güll: "Wir müssen jetzt zunächst einmal 200 bis 300 fertig ausgebildete hoch qualifizierte Lehrkräfte einstellen."

Der bildungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im bayerischen Landtag spricht aus, was gerade viele Oppositionspolitiker fordern: Die Landesregierungen sollten mehr Lehrer einstellen, um alle Flüchtlingskinder unterrichten zu können. Gülls Zahlen für Bayern sind dabei noch vergleichsweise moderat. Der Philologenverband geht von bis zu 400.000 Flüchtlingskindern aus, die dieses Jahr neu an deutsche Schulen kommen werden. Deshalb dringt der Verband darauf, insgesamt 10.000 neue Lehrer einzustellen. Was sagen verantwortliche Politiker dazu?

Die zuständigen Ministerien winken ab: In Bayern etwa versicherte Kultusminister Ludwig Spaenle, man werde mit "weit über 1.000 Klassen vorbereitet sein." Und für Nordrhein-Westfalen kündigte Schulministerin Sylvia Löhrmann an, im Nachtragshaushalt 2.600 zusätzliche Stellen zu schaffen. Ob diese Massnahmen ausreichen oder am Ende die Lehrerverbände Recht behalten, kann derzeit niemand absehen. Erst in einigen Wochen und Monaten wird sich zeigen, ob der Unterricht tatsächlich so reibungslos läuft, wie es die Minister versprechen.

Hans-Peter Friedrich: Es sei "völlig unverantwortlich, dass jetzt zig-Tausende unkontrolliert und unregistriert ins Land strömen und man nur unzuverlässig genau abschätzen kann, wie viele davon ISIS-Kämpfer oder islamistische Schläfer".

Es klingt wie ein Horrorszenario, das der frühere CSU-Bundesinnenminister da entwirft: Islamisten, die sich als Flüchtlinge getarnt ins Land schmuggeln und dort Anschläge verüben. Doch Experten und Geheimdienste warnen vor Übertreibungen. Zwar gebe es mitunter Hinweise, dass "unter den Flüchtlingen auch IS-Kämpfer sein könnten", sagte ein Sprecher des Innenministeriums der Nachrichtenagentur dpa. "Bislang hat sich aber kein solcher Anhaltspunkt konkret bestätigt." Auch der Islamwissenschaftler und Autor Michael Kiefer sagte zu unserem Portal: "Ich sehe hier kein akutes Problem." Am deutlichsten drückte es vor kurzem Gerhard Schindler aus, der Chef des Bundesnachrichtendienst (BND). Er stellte im "Bild"-Interview klar: "Flüchtlinge sind keine Terroristen."

Hannelore Kraft: "Der Bund muss seinen Teil zur Verantwortungsgemeinschaft leisten."

Was die SPD-Ministerpräsidentin von Nordrhein-Westfalen hier recht sperrig formuliert, heisst nichts anderes als: Die Länder verlangen mehr Hilfe vom Bund. Aber haben sie Recht damit? Tatsächlich plant die Grosse Koalition seit vergangener Woche, 2016 sechs Milliarden Euro für die Flüchtlingskrise bereitzustellen. Die Hälfte davon soll an die Länder gezahlt werden. Kraft kritisiert allerdings, NRW gebe in diesem Jahr bereits 1,7 Milliarden für Flüchtlinge aus – wenn ihr Land nun 2016 etwa 600 Millionen erhalte, sei das zu wenig.

Es gehört zum Tagesgeschäft der Politik, dass Bund und Länder regelmässig streiten. Man könnte Finanzminister Wolfgang Schäuble deshalb auch politisches Kalkül vorwerfen, wenn er sagt: "Wir alle können heute noch gar nicht genau sagen, wie viel wir wirklich brauchen – nicht nur für Länder und Kommunen, sondern auch für den Bund." Oder man sieht die Flüchtlingskrise als einfach das, was sie ist: Eine nationale Aufgabe, deren Ausmass auch der beste Finanzexperte im Moment nur ungefähr berechnen kann – schliesslich gelingt es gerade nicht einmal, die Zahl der neuankommenden Flüchtlinge für den nächsten Tag vorauszusagen. Krafts Aussage, dass der Bund keine Verantwortung übernimmt, ist so jedenfalls nicht haltbar.

Andrea Nahles: "Nicht alle, die da kommen, sind hoch qualifiziert. Der syrische Arzt ist nicht der Normalfall."

Natürlich hat die SPD-Arbeitsministerin Recht damit, dass nicht jeder Flüchtling ein Arzt ist – aber das muss er auch gar nicht sein. Denn der Mangel an Fachkräften betrifft viele Branchen in Deutschland. Laut einer aktuellen Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW Köln) fehlen in 96 Berufen qualifizierte Beschäftige. Betroffen sind vor allem drei Bereiche: technische und naturwissenschaftliche Berufe, das Handwerk und das Gesundheitswesen – und dort geht es keinesfalls nur um Ärzte, sondern insbesondere um fehlendes Pflegepersonal.

Hinzu kommen die Jugendlichen, die gerade erst in den Beruf starten. Im vergangenen Jahr stammten fast 30 Prozent aller Asylanträge von unter 16-Jährigen, insgesamt waren das fast 50.000. Im selben Jahr erreichte die Zahl der unbesetzten Lehrstellen mit rund 37.000 einen neuen Höchststand. Viele Flüchtlinge betonen immer wieder, dass sie unbedingt arbeiten möchten und zu lange in der deutschen Bürokratie festhängen. Auch wenn der syrische Arzt also nicht der Normalfall ist, mangelt es meist nicht am Willen oder an freien Stellen auf dem Arbeitsmarkt.

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