Seit Wochen demonstrieren die Menschen in Hongkong gegen ihre Regierung. Der Politikwissenschaftler Stephan Ortmann verfolgt die Proteste und erklärt, woher der Frust kommt, wieso die EU hilflos zuschaut und ob ein zweites Tiananmen-Massaker droht.
Am Sonntag sind die Menschen in Hongkong trotz Regens massenweise auf die Strasse gegangen. Sie sind vor Ort - wie nervös ist die Stadt?
Stephan Ortmann: Ich habe am gestrigen Marsch teilgenommen, der noch einmal eindrucksvoll gezeigt hat, welchen Rückhalt die Protestbewegung noch immer hat. Die Organisatoren schätzen, dass rund 1,7 Millionen Menschen teilgenommen haben - ich kann sagen, dass es kein Vor und Zurück gab und dass es trotz der bedrängten Situation und des Regens friedlich blieb.
Dennoch kann man erkennen, dass sich die Strategie der Demonstranten nach den Geschehnissen der vergangenen Wochen verändert hat. Während man zuletzt den gesamten Flughafen lahmgelegt und damit auch viele Hongkonger brüskiert hat, möchten die Organisatoren nun die Demonstrationen bewusst noch friedlicher durchführen. Ich habe aber meine Zweifel, dass es auf Dauer so friedlich bleiben wird, sollte die Regierung nicht bald einen Kompromiss anbieten.
Dass der Flughafen von Hongkong tagelang gesperrt war, hat viele Menschen genervt. Zudem wächst die Sorge davor, dass die Proteste die Wirtschaft nachhaltig schädigen könnten. Schwindet der Rückhalt in der Bevölkerung?
Wenn man sich die Zahl derer anschaut, die am Marsch teilgenommen haben, kann ich das nicht bestätigen. Die Organisatoren haben aus den Fehlern der Regenschirmbewegung von 2014 gelernt. Damals hat sich die Bewegung spalten lassen. Heute will man jede Form der Spaltung verhindern, indem niemand den anderen öffentlich kritisiert.
Moderatere Kräfte, die die Schliessung des Flughafens sicherlich nicht gut fanden, kritisieren den radikaleren Flügel öffentlich nicht. Andersrum ist es genauso. Diese Geschlossenheit ist das grosse Kapital der aktuellen Bewegung.
Auslöser der Proteste war ein umstrittenes Auslieferungsgesetz der Regierungschefin Carrie Lam. Es wurde inzwischen zurückgezogen, demonstriert wird trotzdem. Weshalb sind die Menschen in Hongkong unzufrieden?
Das angebliche Zurückziehen des Abschiebegesetzes war zunächst ein grosser Propagandaerfolg der Regierung. Denn formell ist das Gesetz überhaupt nicht zurückgezogen worden. Es könnte innerhalb eines Tages wieder durchs Parlament gebracht werden. Da die Menschen der Regierung nicht vertrauen, haben sie die Sorge, dass sich dieses Gesetz nur durch anhaltenden Protest verhindern lässt.
Es gibt aber auch auf anderer Ebene Gründe dafür, dass die Menschen in Hongkong auf die Strasse gehen. Viele haben das Gefühl, dass die Regierung ihnen nicht zuhört. Das betrifft zum Beispiel die Freiheiten, die von chinesischer Seite immer mehr beschnitten werden.
Zudem bezahlen die Hongkonger die höchsten Mieten der Welt, sodass der Lebensunterhalt generell sehr hoch ist, während die Löhne vergleichsweise gering sind. Dazu kommt, dass der soziale Aufstieg immer seltener gelingt. All die Missstände sind seit Jahren bekannt, aber es ändert sich wenig. Die Menschen sind deshalb frustriert.
Die Regierung in China reagiert zunehmend nervös auf die Proteste in Hongkong. Sorgt man sich davor, dass eine solche Bewegung auch auf das Festland übergreifen könnte?
Ich halte das für unwahrscheinlich, denn die politische Kultur ist in China eine ganz andere. Die Menschen in Hongkong sind durch liberales Gedankengut geprägt, die Freiheit gehört zu ihrer Identität. Es sind hier auch, anders als in China, eher die gebildeten Menschen, die auf die Strasse gehen.
Auch auf dem Festland gibt es eine grosse Unzufriedenheit. Aber dort es sind vor allem die ungebildeten Menschen, die unter den Problemen wie der Umweltverschmutzung leiden. Diese Unterschiede machen es schwer, eine Brücke zwischen den Frustrierten in Hongkong und in China zu schlagen. Die Propaganda in China schafft es ausserdem sehr gut, jede Form von Protest zu dämonisieren, weshalb die Proteste in Hongkong auch nicht besonders positiv in China aufgenommen werden.
In den letzten Tagen war mehrmals zu sehen, wie an der Grenze von Shenzen zu Hongkong chinesische Truppen aufmarschiert sind. Droht ein zweites Tiananmen-Massaker?
Die Invasion von militärischen Truppen kann man nicht ausschliessen, aber die chinesische Regierung will solche Bilder unbedingt vermeiden. Ein Eingreifen hätte mit grosser Wahrscheinlichkeit das Ende der Sonderwirtschaftszone zur Folge und würde damit starke und unvorhersehbare Konsequenzen für China erzeugen.
Überhaupt ist es fraglich, ob ein militärisches Eingreifen die Proteste effektiv beenden könnte. Bei Tiananmen und der Regenschirmbewegung 2014 haben die Demonstranten tagelang die Strassen blockiert. Es war deshalb für die Sicherheitskräfte möglich, die Proteste mit Panzern niederzuschlagen.
Heute erleben wir, dass die Demonstranten spontane Guerilla-Taktiken anwenden. Sie blockieren kurzzeitig eine Strasse, warten bis die Polizei reagiert und flüchten dann. Auf so eine Taktik kann man nicht einfach mit Panzern reagieren. Das ginge höchstens bei einem Marsch wie am Sonntag. Aber in Anbetracht der internationalen Blamage, die ein solches Eingreifen zur Folge hätte, sehe ich den Truppenaufmarsch eher als Drohung denn als realistische Möglichkeit.
Wieso sitzt China die Proteste nicht einfach aus? Wieso produziert man unschöne Bilder, die den sorgfältig gepflegten Eindruck zerstören, China werde unter
Die chinesische Regierung lebt in ihrer eigenen Welt. Wenn Protestler die chinesische Flagge ins Wasser werfen oder das Symbol der chinesischen Regierung öffentlich zerstören, ist das für die chinesische Regierung Hochverrat.
Über Jahre hinweg hat man bei der Bevölkerung auf dem Festland zudem einen Nationalismus gegenüber Hongkong geschürt und möchte nun unbedingt vermeiden, das Gesicht zu verlieren. Das ist eine gefährliche Situation, die daraus resultiert, dass der Nationalismus in China nicht ganz rational ist.
Nach der Wahl
China verknüpft wirtschaftliche Initiativen immer auch mit politischen Hintergedanken. Man macht Wirtschaftspolitik, um andere Länder für sich und darüber international an Stärke zu gewinnen. Am Ende steht aber immer das Ziel, die kommunistische Partei zu stärken. Das hat man im Westen unterschätzt.
China öffnet sich nicht, im Gegenteil. Nach Xi Jinpings Machtergreifung entwickelt sich die Liberalisierung Chinas rückläufig. Dafür reicht es schon, sich die Konzentrationslager in Xinjiang oder den Umgang mit Tibet anzusehen. Weil China die Lücke füllt, die die USA unter Donald Trump hinterlassen haben, und rasant an Dominanz auf der Welt gewinnen, wird dieses Verhalten international aber ignoriert.
US-Präsident Donald Trump hat auf Twitter angeboten, im Konflikt zu vermitteln. Wie kam das in China an?
Die Chinesen werden dieses Angebot eher mit einem Lächeln zur Kenntnis genommen haben, als dass sie Trump dabei wirklich ernst nehmen.
Welche Rolle sollte die EU im Hongkong-Konflikt spielen?
Ich bezweifle, dass die EU über moralische Unterstützung hinaus Hilfe leisten kann. Die EU ist wirtschaftlich abhängig von China, Sanktionen sind deshalb keine Option. Mit Ausnahme von Statements hat die EU deshalb kaum Handlungsspielraum.
Joshua Wong, eine der Gallionsfiguren, hat die Lage in Hongkong mit der von 1989 in der DDR verglichen. Lässt sich der Widerstandsgeist der Hongkonger Bürger mit dem der Berliner damals vergleichen?
Der Widerstandsgeist der Hongkonger ist mit den Berlinern sicherlich vergleichbar. Aber anders als in der DDR, wo viele Menschen die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung hatten, ist die Hoffnung auf eine Liberalisierung in Hongkong eher gering. China wird immer mächtiger, in vielen Ländern entwickelt sich die Demokratie zurück. Die Menschen in Hongkong haben deshalb wenig Perspektive, dass sich ihre Situation zum Besseren ändert.
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